Afghanistan Immer mehr tote Zivilisten - immer mehr tote Kinder
In Afghanistan sind im ersten Jahr nach Ende des Nato-Kampfeinsatzes so viele Zivilisten durch Gewalt und Waffen zu Schaden gekommen wie noch nie seit Beginn der Zählung durch die Uno im Jahr 2009.
11.002 Fälle hätten die Vereinten Nationen in 2015 verzeichnet, sagte die Chefin der Menschenrechtsabteilung der Uno-Mission Unama, Danielle Bell, bei der Vorstellung des Zivilopferberichts in Kabul. Darunter seien 3545 Tote und 7457 Verletzte - vier Prozent mehr als in 2014. Die meisten Menschen wurden demnach getötet (1116) oder verletzt (3021), als sie bei Gefechten der Konfliktparteien zwischen die Fronten gerieten.
Besonders stark stiegen die Opferzahlen unter Frauen und Kindern: unter den Frauen um 37 Prozent auf 1246 Tote und Verletzte, unter den Kindern um 14 Prozent auf 2829. Damit sei fast jedes vierte Opfer ein Kind, sagte Bell. Neben Kämpfen und improvisierten Sprengsätzen wurden Kinder besonders häufig durch Minen und unexplodierte Geschosse getötet. 113 Kinder starben auf diese Weise 2015.
"Ich will studieren, nicht sterben"
Uno-Frau Danielle Bell wies auch auf den "verstörenden Trend" hin, dass die Taliban vermehrt Frauen wegen "moralischer Verbrechen" exekutierten oder auspeitschten - ein Verhalten, das sich auch 2016 fortsetze. Afghanische Medien und Behörden berichteten allein in der vergangenen Woche von zwei Frauen, die ausgepeitscht wurden, und einer Frau, die erschossen wurde.
Einen starken Anstieg sah die Uno 2015 auch bei gezielten Morden an Zivilisten, zum Beispiel an Gemeindeführern, Mullahs, Richtern oder Regierungsmitgliedern. Insgesamt wurden demnach im vergangenen Jahr 188 Angriffe auf Richter, Staatsanwälte und Justizeinrichtungen gezählt.
Insgesamt macht die Uno Taliban und andere Extremisten für 6858 tote und verletzte Zivilisten verantwortlich - 62 Prozent aller Opfer. 82 Fälle gehen auf das Konto der Terrormiliz "Islamischer Staat".
Der Bericht sagt weiterhin, dass 14 Prozent der zivilen Opfer auf afghanische Streitkräfte zurückzuführen seien (ein Anstieg von 28 Prozent) und zwei Prozent auf internationales Militär. Obwohl der Nato-Kampfeinsatz 2014 zu Ende gegangen war, helfen Nato-Streitkräfte durch Luftangriffe und mit Spezialeinheiten am Boden aus. Die Mehrheit der weiteren Opfer war keiner Konfliktpartei zuzuordnen.
"Der Bericht spiegelt den wahren Horror nicht wider"
Seit Beginn der Zählung ziviler Opfer in 2009 hat die Uno 58.736 Fälle verzeichnet - 21.323 Tote und 37.413 Verletzte. Sie zählt konservativ: Jedes Opfer muss durch drei Quellen bestätigt werden. Das wird zunehmend schwieriger, weil wegen der schlechten Sicherheitslage in den Provinzen viele Uno-Büros geschlossen und Nichtregierungsorganisationen ihre Präsenz verkleinert haben. Experten nehmen an, dass es viel mehr undokumentierte Opfer gibt
"Sagt diesen Leuten, nicht länger Kinder anzugreifen", wurde ein Zwölfjähriger in dem Bericht zitiert, der einen Mörserangriff überlebte, in dem vier andere Menschen starben. "Ich will studieren, nicht sterben."
"Das Leiden, das den Zivilisten zugefügt wird, ist völlig inakzeptabel", sagte der Uno-Sondergesandte für Afghanistan, Nicholas Haysom. Er rief die Verantwortlichen auf, mehr zum Schutz der Zivilisten zu unternehmen und die Angriffe zu beenden. Der Bericht spiegele "den wahren Horror" nicht wider, sagte Haysom. "Die wahren Kosten werden in den verstümmelten Körpern der Kinder gemessen, in den Gemeinden, die mit dem Verlust leben müssen, der Trauer der Kollegen und Verwandten, den Familien, die ohne ihren Ernährer auskommen müssen, den Eltern, die um Kinder trauern, den Kindern, die um Eltern trauern."
Die Taliban hatten nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen ihre Aktivitäten verstärkt und waren auch wiederholt in große Städte vorgedrungen. So eroberte die islamistische Rebellenbewegung im September kurzzeitig die nordafghanische Stadt Kunduz.
Aus Afghanistan sind in den letzten Monaten Zehntausende Flüchtlinge nach Deutschland gekommen - im gesamten Jahr 2015 zählten die Behörden rund 150.000 afghanische Asylsuchende. Die Bundesregierung will vermehrt Flüchtlinge wieder dorthin zurückbringen - durch Abschiebungen oder freiwillige Rückkehr. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat sich zu diesem Zweck an die Innenminister der Bundesländer gewandt. Noch in diesem Monat soll eine Chartermaschine Afghanen zurück in ihre Heimat fliegen.