Die Europäische Union denkt aus gutem Grund über eine grundlegende Neuordnung der Flüchtlingspolitik nach. Dabei sollte nicht nur ein Quotensystem zur gerechteren Verteilung der ankommenden Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten eingeführt werden. Um die Asylsysteme der EU-Staaten zu entlasten, könnten zum Beispiel auch Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien, Eritrea und Somalia, deren Asylanträge häufig anerkannt werden, im Rahmen europäischer Kontingente direkt aus dem Ausland aufgenommen werden. Das würde ihnen die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer oder auf andern irregulären Wegen ersparen.

Zudem würde ein solcher Schritt die humanitären Probleme in den Nachbarstaaten der Krisenländer wie Libanon, Türkei und Jordanien verringern. Diese Länder tragen derzeit die größte Last der Flüchtlinge vor allem aus Syrien. Sie sind damit überlastet und es droht ihnen selbst eine Destabilisierung.

Bei solchen kollektiven Aufnahmeverfahren müssen allerdings zwei Grundsätze beachtet werden: Erstens dürfen sie nicht zum Ersatz für das individuelle Recht auf Asyl werden, sondern lediglich Entlastung bei offensichtlichen Fällen bieten. Zum anderen muss sichergestellt werden, dass es sich tatsächlich um eine solidarische europäische Antwort auf das Flüchtlingselend handelt. Ein faires System der Verantwortungsteilung könnte sicherstellen, dass sich alle EU-Staaten an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen.

Kollektive Aufnahme durch Schutzprogramme

Der europäischen Politik stehen zwei Instrumente zur Verfügung, die bisher nur wenig oder gar nicht genutzt werden: sogenannte Resettlement-Programme und Programme zur temporären Aufnahme von Flüchtlingen.

Über sogenannte Resettlement-Programme kann Menschen Schutz geboten werden, die aus Kriegsländern oder Verfolgungssituationen in Nachbarländer geflohen sind und deren Schutzbedarf bereits nachgewiesen ist. Der betreffende Aufnahmestaat kann einer bestimmten Zahl von Flüchtlingen die dauerhafte Niederlassung ermöglichen. Im vergangenen Jahr haben zwar 15 EU-Mitgliedstaaten solche Übersiedlungskontingente angeboten, vor allem für Flüchtlinge aus Syrien, diese waren aber oft nur sehr klein.

Programme zur temporären Aufnahme von Flüchtlingen sollen in akuten humanitären Krisen mit einer hohen Zahl Vertriebener pragmatisch, schnell und unbürokratisch Schutz bieten. Im Gegensatz zum Resettlement geht es hier um eine vorübergehende Aufnahme mit späterer Rückkehr ins Herkunftsland nach Ende des Konflikts. Die EU verfügt mit der sogenannten Massenzustromrichtlinie bereits seit fast 15 Jahren über eine Rechtsgrundlage dafür. Obwohl die Krise in Syrien einen typischen Fall für ein solches Programm darstellen könnte, hat die EU die Richtlinie bislang nicht angewendet.

Unfaire Verteilung der Flüchtlinge

Ein Grund für die bisherige Zurückhaltung der EU-Staaten bei kollektiven Aufnahmeverfahren sind die schlechten Erfahrungen mit dem Dublin-System, durch das vor allem die Länder an den südlichen und östlichen EU-Außengrenzen für die Aufnahme der Asylsuchenden zuständig sind. Diese kommen jedoch teilweise ihren Verpflichtungen nicht nach, sondern schicken die Flüchtlinge mehr oder weniger offen weiter. Gleichzeitig nehmen einige west- und nordeuropäische Staaten, allen voran Deutschland, Frankreich und Schweden, eine hohe Zahl an Flüchtlingen auf. In diesen Ländern wächst der Unmut über jene EU-Mitglieder, die sich ihrer Verantwortung für den Flüchtlingsschutz entziehen. Gleichzeitig sinkt die Bereitschaft bei den anderen Ländern, nach gemeinschaftlichen Wegen zur Bewältigung der Flüchtlingszuwanderung zu suchen. Dieser Widerwille kann nur überwunden werden, wenn es gelingt, die bestehenden Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Flüchtlingen zu beseitigen.

Ein fairer Verteilungsschlüssel

Voraussetzung für ein faires Verteilungsverfahren wäre die Einigung auf einen Verteilungsschlüssel, der die Bedingungen in den Mitgliedstaaten berücksichtigt. Die Stiftung Wissenschaft und Politik sowie der Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration haben bereits 2013 ein Modell zur Bestimmung fairer Quoten für die Flüchtlingsaufnahme vorgelegt. Es berücksichtigt die Wirtschaftskraft, die Bevölkerungsgröße, die Landesfläche und die Arbeitslosigkeit der jeweiligen EU-Staaten. Dieses Verfahren könnte auch bei Resettlement-Programmen und bei Programmen zur temporären Aufnahme angewendet werden. Die EU-Kommission plant einen ähnlichen Schlüssel.

Am Beispiel eines kleinen fiktiven Gesamtvolumens von 10.000 Menschen können die Verteilungswirkungen gut beobachtet werden: Die meisten EU-Staaten müssten weniger als 300 Flüchtlinge aufnehmen, ein Drittel sogar weniger als 100. Neben Deutschland würden nur auf drei der größten EU-Länder jeweils knapp über 1.000 Personen entfallen. Gerade die bei der bisherigen Flüchtlingsaufnahme zurückhaltenden Mitgliedstaaten könnten durch ein solches Verfahren dem Vorwurf der Tatenlosigkeit begegnen und zeigen, dass sie ihre humanitäre Verantwortung ernst nehmen. Gleichwohl ergäbe sich in der Summe ein signifikantes europäisches Gesamtkontingent.

Pilotprogramm für Flüchtlinge aus Syrien

Die EU könnte mit einer an Quoten orientierten Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus Syrien – praktiziert an einem überschaubaren Kontingent – in eine faire Verantwortungsteilung einsteigen. Ein solches Pilotprogramm hätte hohe Symbolkraft, weil es die Leistungsfähigkeit des gemeinsamen Schutzsystems und die Tragfähigkeit des Solidaritätsgedankens bekräftigen würde.

Die politische Einigung auf ein solches Programm wäre der erste wichtige Schritt. Im Anschluss müsste die EU-Kommission die grundsätzlichen Modalitäten für kollektive Aufnahmeverfahren ausarbeiten. Entscheidend hierbei sind objektive wie auch subjektive Kriterien, nach denen die Flüchtlinge ausgewählt werden. So könnten zum Beispiel berücksichtigt werden, ob die Betreffenden schon Familienangehörige im jeweiligen Land haben, oder die Präferenzen der Flüchtlinge. Sowohl beim Resettlement als auch bei temporären Schutzprogrammen müsste die EU eng mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) zusammenarbeiten. Nach einer erfolgreichen Erprobungsphase könnten die Programme weiter ausgebaut werden.