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Meinung Ukraine-Krise

Die Deutschen fürchten sich zu Tode

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Ein Gespräch unter Freunden? Bundeskanzlerin Angela Merkel unterhält sich mit US-Präsident Barack Obama beim G-20-Gipfel im australischen Brisbane im November 2014 Ein Gespräch unter Freunden? Bundeskanzlerin Angela Merkel unterhält sich mit US-Präsident Barack Obama beim G-20-Gipfel im australischen Brisbane im November 2014
Ein Gespräch unter Freunden? Bundeskanzlerin Angela Merkel unterhält sich mit US-Präsident Barack Obama beim G-20-Gipfel im australischen Brisbane im November 2014
Quelle: dpa
Russland-Krise, Folterbericht, Freihandelsabkommen – die Deutschen zittern, schlimmer: sie schwanken. Viele können eher über Putins Drohungen hinwegsehen als amerikanische Politik nachvollziehen.

Juni 1981 – Kirchentag in Hamburg. Angst und Endzeiterwartungen hängen wie Gewitterwolken über den Messehallen. Unter der Weltuntergangsuhr – ihre Zeiger stehen auf vier vor zwölf – schreiben die Gläubigen ihre Wünsche. „Noch einmal das Gesicht zur Sonne wenden“, kann man lesen, oder: „Ich werde mich fest an meinen Freund klammern und auf Gott vertrauen.“ Andere, vor allem Jugendliche, lagern in der „Halle der Stille“, während hundert Meter weiter Mütter schwören, sich „diesen Selbstmord auf Raten nicht mehr als Frieden verkaufen zu lassen“.

„Angst liegt in der Luft/ große Angst – kleine Angst/ meine Angst – deine Angst“ klingt es aus der Trinitatis-Kirche, in der Kirchentagsbesucher mit Bundeskanzler Schmidt diskutieren. Es ist die Zeit der Nachrüstungsdebatte. In einem fort berichten die Nachrichten von der „Erstschlagkapazität“, der Pershing- und SS-20-Raketen.

War die Angst berechtigt? Wer zurückdenkt, wird sich ob der Hysterie die Augen reiben und die Furcht, die damals viele ergriff, für peinlich halten. Zu Recht. Doch – Hand aufs Herz – sieht es heute anders aus? Die damalige Panik ist überwunden, aber sind wir sicher, dass sie auf keinen Fall in ähnlicher Wucht zurückkehren könnte? In den noch lauen Winden der Russland-Krise beginnen die Deutschen wieder vor Orkanen zu zittern, obwohl sie in ihren Breiten keine Stürme zu befürchten haben und der Krieg zwar weit im Osten wütet, aber wohl begrenzt bleibt.

Die Deutschen besitzen einen Hang zum leidenden Pessimismus, beobachtete schon Arthur Schopenhauer

Dennoch: „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ – erschallt es so, als würde der Kontinent erst an der deutschen Grenze beginnen und als wäre die Apokalypse nah. Dabei ist es nicht das Bangen vor Russland, seinem Machthunger und dem Versuch, das alte Sowjetreich wiederherzustellen. Es ist das Zittern und Zagen vor den westlichen Reaktionen. Sie seien überzogen, reizten den russischen Bären ohne Grund und führten schließlich dazu, dass er – gleichsam als Akt der Selbstverteidigung – das arme Land in der Mitte Europas in den Krieg und die Vernichtung treibe. Wieso fürchten Polen und Balten nicht ähnliches? Wieso sind Briten und Franzosen, Holländer und Italiener gelassener?

Auch wenn die Deutschen es nicht gern hören, wie schon in den Tagen der Friedensbewegung verharren viele von ihnen, wenn nicht die meisten im Einerseits-Andererseits zwischen dem absoluten Heil oder der unabsehbaren Katastrophe. Sie mahnen schrill zur Umkehr oder sagen erregt den Untergang voraus. Die Deutschen besäßen einen Hang zum leidenden Pessimismus, beobachtete Arthur Schopenhauer schon.

Seltsam nur, dass sich im Laufe der Jahrhunderte daran kaum etwas geändert hat. Sicher, in der jüngsten Geschichte des Landes ist die Politik mit einer größeren Portion gesunden Menschenverstandes betrieben worden als je zuvor – von Konrad Adenauer bis Angela Merkel –, doch gerade in den Turbulenzen um die Ukraine spürt man tief darunter noch immer die gleichen alten Ängste und die Schwierigkeit, die Dinge in ihren wahren Ausmaßen zu betrachten.

Thomas Mann (1875 bis 1955) um 1930
Thomas Mann (1875 bis 1955) um 1930
Quelle: picture alliance / akg-images

Und noch etwas weiteres ist im heutigen Deutschland wahrzunehmen: eine, um mit Thomas Mann zu sprechen, „sittliche Sicherheit und Selbstgewissheit, die der Verhärtung nahekommt“. Die Deutschen wissen genau, wer im Falle der Russland-Krise der wahre Aggressor ist. Sie sind davon überzeugt, auf welche Weise der Frieden wiederherzustellen ist und lassen sich von Nachbarn und Freunden, von Partnern und Verbündeten kaum beeinflussen; schon gar nicht wenn sie östlich der Oder zu Hause sind. Die verdeckte Überheblichkeit den Osteuropäern gegenüber bricht immer dann aus, wenn die Russen ins Spiel kommen. In diesem Fall zählen Polen und Balten wenig, von den Ukrainern zu schweigen.

Wenigstens vom Gefühl her bleibt Deutschland ein Staat in der Mitte Europas, der sich trotz jahrzehntealter Westbindung nicht wirklich im Westen heimisch fühlt, dessen Bevölkerung – die ostdeutsche zumal – in ihren maßgeblichen Teilen immer häufiger mental hin- und herschwankt und den Vereinigten Staaten alle Übel der Welt zutraut – von der Folter, die im System als solchem angelegt sei, bis zu den Abhörmaßnahmen der NSA. Amerika, ein Hai im Meer der Tränen, die andere nur seinetwegen vergießen!

Schon seit geraumer Zeit sind viele Deutsche nicht mehr bereit, die Vereinigten Staaten bei aller berechtigten Kritik mit dem Wohlwollen zu betrachten, den eine verbündete Demokratie, der sie zudem fast alles zu verdanken haben, verdient. Seit Jahren sind sie nicht mehr willens, die geografische Entfernung von Amerika durch geistige Nähe zu ersetzen. Heute fällt es vielen Deutschen leichter, über das russische Gebaren hinwegzusehen als die amerikanische Politik nachzuvollziehen.

Zum Hochmut den Osteuropäern gegenüber gesellt sich ein Antiamerikanismus, der seit der Wiedervereinigung mächtiger wird
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Zur der Furcht vor dem Untergang, zu der „Selbstgewissheit, die der Verhärtung nahe kommt“, zum Hochmut den Osteuropäern gegenüber gesellt sich ein Antiamerikanismus, der seit der Wiedervereinigung mächtiger wird. Mittlerweile bereitet er der Politik sogar schon ernste Schwierigkeiten, etwa wenn man an das Freihandelsabkommen (TTIP) denkt, das – gut verhandelt – nur Vorteile brächte und das westliche Bündnis durch eine „ökonomische Nato“ verstärkte. Wo aber der Antiamerikanismus ist, da ist der Hang zum Neutralismus nicht fern. Anders als der Historiker Heinrich August Winkler glaubt, ist Deutschland im Westen zwar angekommen (und das seit 1949), mittlerweile will ein Großteil der Gesellschaft von dort aber wieder ausbüchsen.

„Wir sehnen uns nach Hause/ Und wissen nicht, wohin“ dichtete Josef von Eichendorff. Das ist die Stimmung vieler Deutscher, die nicht wegzukriegen ist – trotz Reeducation und den Wohltaten, welche die Westbindung brachte. Offenbar tragen selbst viele Jüngere, die in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen sind, von der Mehrheit der Ostdeutschen zu schweigen, Eichendorffs Satz wie ein geistiges Erbe in sich – mit allen Konsequenzen für die deutsche Gelassenheit und die politische Orientierung.

Die Bundesregierung übergeht diese Stimmung. Noch kann sie dem gesunden Menschenverstand bündnispolitisch folgen. Auch ihre Nachfolger werden womöglich Kurs halten. Doch es könnte der Tag kommen, an dem nicht Adenauer, sondern Eichendorff zur Staatsräson der Bundesrepublik wird: „Wir sehnen uns nach Hause/ Und wissen nicht, wohin“. Möge der Herrgott oder wer auch immer dies verhindern. Es läge im deutschen Interesse.

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