Gunnar Heinsohn / 26.07.2014 / 22:31 / 2 / Seite ausdrucken

No Jews, No News

Nigers Fruchtbarkeit treibt das (zu 80 Prozent muslimische) Land zwischen 1949 und 2014 von 2,2 auf 17,6 Millionen Einwohner, eine Lebensfreude à la Gaza, wo es sogar um den Faktor neun nach oben geht.

Beim männlichen Durchschnittsalter erreicht Niger 15 Jahre (D: 45,1). Mit einer Kinderzahl von 6,89 pro Frau wird auch 2014 die Weltspitze souverän verteidigt. Der Kriegsindex (15-25-jährige Jünglinge zu 55-64-jährigen Männern) steht bei 5,4 (D: 0,8).

1969, neun Jahre nach der Unabhängigkeit von Paris, besucht Bundespräsident Heinrich Lübke die Hauptstadt Niamey. 1974 hat der erste Militärputsch Erfolg.  Der Diktator Seyni Koutché installiert eine eiserne Diktatur. Nach seinem Tod im Jahre 1987 entbrennt – unter wechselnden Juntas – bis 1995 immer wieder Bürgerkrieg. Dabei stehen auch Tuareg (Popular Front for the Liberation of Niger/FPLN) gegen Regierungssoldaten (Forces armées nigériennes).

Nach einem Massaker an hunderten von Tuareg-Zivilisten bilden die Stämme zusätzliche Milizen. Wer diese Beduinen ausrotten will, holt sich von nun ab eine blutige Nase. Ohnehin will niemand den Mördern aus Nigers Regierung Raketen oder auch nur Solidaritätskarawanen schicken. Tuareg sind keine Juden. Ihr Schicksal kümmert so gut wie niemanden. Aber es gibt gegen sie auch keinen globalen Hass.

Im Waffenstillstand von 1995-2007 können alle Seiten Nigers neue Kräfte sammeln. Obwohl 2005 Tausende verhungern, springt die Bevölkerung im selben Zeitraum von 9 auf 14 Millionen.

Von 2007-2009 stehen die Tuareg wieder im Aufstand. Obwohl hunderte ihrer Familien abgeschlachtet werden, bleiben die Krieger ungeschlagen. 2010 beginnt in Nigers nunmehr 50-jähriger Geschichte die mittlerweile Siebte Republik. All diese Oszillationen zwischen Wahlen, Coups und Gemetzeln bleiben meist unterhalb des Radars der Journalisten in Berlin, New York oder Ankara.

2012 verlagern die Tuareg das Schwergewicht ihrer Operationen nach Mali. 2013 erhält Niamey eine Drohnenbasis der US-Streitkräfte gegen die Islamisten Nordafrikas. Für dasselbe Jahr meldet UNICEF den Hungertod von 2.500 Kindern. Wer unter Nigers Erwachsenen Kraft und Geld genug für die Schlepper hat, schlägt sich nach Algerien durch, um von dort nach Europa zu gelangen. Dabei bleibt im Oktober 2013 ein Migranten-LKW mit Motorschaden in der Sahara liegen. 92 Menschen – darunter 32 Frauen und 48 Kinder – verdursten in der Wüste (http://www.theguardian.com/world/2013/oct/31/niger-migrants-found-dead-sahara-desert). 23 Überlebende – junge Männer zumeist – schlagen sich zum nordafrikanischen Nachbarn durch.

Im März 2014 ergehen neue Hungerwarnungen. Gleichwohl bleiben Hilfskampagnen für Niger in westlichen oder arabischen Medien aus. Zu Demonstrationen versammelt sich niemand. Großzügige Milliarden-Überweisungen werden nirgendwo zugesagt. An Sondersitzungen von UNO-Gremien wird nicht einmal gedacht.

Dabei steht Niger nur exemplarisch für rund drei Dutzend ähnliche Brennpunkte. Die Erinnerung an sie ist nur schwer wachzuhalten; denn für alle gilt: No Jews, no news.

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Leserpost

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Wolf-Dieter Schleuning / 27.07.2014

Interessant, allerdings sind die Tuareg keine Beduinen. Beduinen sind nomadisierende Araber. Tuareg sind ihrer Herkunft nach Berber.

Martin Wessner / 27.07.2014

Sehr geehrter Herr Dr. Heinsohn, der afrikanische Staat Niger gehört nicht zur westlichen Kulturhemisphäre. In Niger wohnen keine “Weissen” und die Konflikte in Niger lassen sich nicht im weltanschaulichen Links-Rechts-Schema der westlichen Welt als Munition gegenüber dem innenpolitischen Gegner verwenden. Israel gehört aber nunmal definitiv zur westlichen Welt. Daher kann man das, was dort abläuft, zwischen Vancouver und Warschau auch so schön exemplarisch für seine eigenen ideologischen Belange verwursten. Die betroffenen Menschen und ihr Schicksal spielen dabei tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle. Wenn das Thema durchgekaut ist, weil das eigene Feindbild nicht mehr bedient werden kann, lässt man die Leute, für die man sich kurz vorher noch achso beherzt engagiert hatte, fallen wie eine ausgequetschte Zitrone und sucht sich am Obststand der Weltpolitik eine neue Frucht, die man auslutschen kann. Das war bei den Anti-Schah und bei den Anti-Vietnam Protesten den 60ziger Jahren so. Da war bei den Militärputschen(Griechenland, Chile, Argentinien, usw.) in diversen zweite und dritte Weltländer in den 70ziger Jahre so. Das war bei den Revolutionen in Mittelamerika(Nicaragua, El Salvador, Guatemala, usw.) in der 80ziger Jahren so. Das war bei den Kriegen der USA in diversen muslimischen Staaten so und das wird auch im Palästina-Israel-Konflikt so sein, wenn diese beiden Parteien sich erstmal auf eine Friedenslösung geeinigt haben. Dann sind die Palästinenser, selbst wenn es ihnen anschließend noch so elend gehen würde, bei all jenen, die sich für sie eingesetzt hatten, keinerlei Mühe und keinerlei Schlagzeilen mehr wert. Stattdessen zieht die Karawane gleichgültig weiter. Der Antisemitismus hat daher, zumindest was die Berichterstattung in den westlichen Medien und die Äußerungen diverser westlicher Parteipolitiker betrifft, meiner Meinung nach nur eine untergeordnete Bedeutung in deren Deutungs- und Argumentationsmuster. Stellen sie sich einmal vor, Herr Heinsohn, in Israel würde nicht Herr Netanjahu vom konservativen Likud-Block regieren, sondern die Macht in dem Land hätte ein sozialistisches Regime mit einem Charismatiker vom Schlag eines Hugo Chavez an der Spitze der Regierung. Glauben Sie, dass die Berichterstattung oder die parteipolitischen Sympathien für das Land dann immer noch die selben wären? Mit Sicherheit nicht!!! Dann würde in den Köpfen vieler Leute plötzlich nicht mehr ein übermächtiges, rechtsgerichtetes Israel gegen arme, schwache, unterdrückte Palästinenser kämpfen, sondern ein schwacher, von allen Seiten bedrohter Leuchtturm des Fortschritts müsste sich gegen ein Meer von klerikal-reaktionären, großarabisch-imperialistischen, feudalistisch-kapitalistischen, diktatorischen Staaten um ihn herum heldenhaft behaupten, und all die Journalisten und Politiker, die zuvor noch virtuell das Palästinensertuch um ihren Hals gewickelt hatten, würden flux zur Kippa wechseln und mutmaßlich viele von jenen, die zuvor noch solidarisch auf “Pro-Israel”-Demos die Flagge mit dem Davidstern geschwenkt hatten, würden die Bibliotheken der Republik bevölkern, um nachzulesen, ob bei der Gründung des jüdischen Staates denn tatsächlich wirklich alles mit rechten Dingen zugegangen ist und ob den geschundenen Palästinenser vielleicht nicht doch Unrecht angetan wird. So sind die Leute und nicht anders. Davon gehe ich mal aus.

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