Terroranschläge in Brüssel:Warum Belgien?

Ausgerechnet aus dem kleinen Belgien kommen besonders viele islamistische Terroristen. Wer nach den Ursachen für diese Entwicklung sucht, findet gleich mehrere Erklärungen.

Von Markus C. Schulte von Drach

Nach den jüngsten Anschlägen islamistischer Terroristen in Europa ist immer wieder ein Land besonders in die Schlagzeilen geraten: Belgien. Diesmal schlugen die Terroristen direkt in Brüssel zu, am Flughafen und in der Metro. Der IS hat sich inzwischen zu den Anschlägen bekannt. Es ist nicht das erste Mal, dass Belgiens Hauptstadt zum Ziel wurde.

Bereits 2014 erschoss Mehdi Nemmouche vier Menschen bei einem Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel. Aber auch nach den Anschlägen in Paris 2015 führte die Spur einiger Attentäter nach Belgien. Ebenfalls im vergangenen Jahr war Ayoub El-Khazzani in Brüssel in den Thalys-Zug gestiegen, wo er versuchte, Fahrgäste zu erschießen, bevor er überwältigt wurde.

Belgien hat ein Terroristenproblem. Das belegen auch Schätzungen der Sicherheitsdienste, denen zufolge etwa 500 bis 600 Belgier sich der Terrororganisation "Islamischer Staat" angeschlossen haben - das sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr "Gotteskrieger", als sich aus jedem anderen EU-Staat nach Syrien und in den Irak aufgemacht haben.

Insbesondere der Name eines Stadtteils der Hauptstadt Brüssel tauchte im Zusammenhang mit Terrorermittlungen immer wieder auf: Molenbeek. Von hier kamen einige der Terroristen von Paris, hier konnte sich der kürzlich festgenommene Attentäter Salah Abdeslam verstecken. Schon 2004 führten die Ermittlungen nach den Anschlägen von Madrid hierher.

Als "Brutstätte des Terrorismus" bezeichnen manche Journalisten und Politiker die Gemeinde am Rande der Großstadt inzwischen. Der Verdacht liegt nahe, dass die aktuellen Anschläge ebenfalls von islamistischen Terroristen verübt wurden.

Wieso hat das kleine Land Belgien ein so großes Problem mit dem Terror?

Dass ausgerechnet Belgien immer wieder im Zusammenhang mit islamistischem Terror in die Schlagzeilen gerät, überrascht ausländische Beobachter immer wieder - was allerdings auch daran liegt, dass Belgien sonst nicht so sehr im Fokus der internationalen Medien steht.

Während die Schwierigkeiten etwa in den Banlieus, den Randvierteln der französischen Großstädte, längst überall bekannt sind, wurden die Probleme in Belgien außerhalb des Landes kaum wahrgenommen. In Brüssel selbst galt Molenbeek dagegen schon längere Zeit als Problemviertel - jedoch vor allem wegen Drogenkriminalität und Diebstählen. Dazu kamen Messerangriffe auf Polizisten, in der U-Bahn wurden Passanten bedroht.

Wie aber konnte es zur religiösen Radikalisierung junger Menschen kommen, die nun meinen, für einen Gott töten und sterben zu müssen? Die Ausgangslage: Etwa 25 Prozent der etwa 95 000 Einwohner Molenbeeks sind Ausländer, insbesondere Muslime, die meisten davon marokkanischer Abstammung. In manchen Vierteln des Stadtteils liegt der Bevölkerungsanteil von Menschen maghrebinischer Herkunft bei 80 Prozent.

Fast 25 Prozent der Molenbeeker sind arbeitslos. Viele Jugendliche, bei denen der Anteil der Arbeitslosen sogar bei etwa 40 Prozent liegt, sehen für sich kaum eine Zukunft. Es gibt Vorwürfe, junge Muslime würden auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert, während die Einwohner im Nachbarviertel Sainte-Cathrine ihnen vorleben, was Wohlstand ist.

Politiker wie Françoise Schepmans, seit 2013 Bürgermeisterin Molenbeeks, sehen darin und in einer Abschottung vieler muslimischer Bürgerinnen und Bürger Bedingungen, die zu den Ursachen des Terrors gehören. Dabei hatte Schepmans' Vorgänger Philippe Moureaux in seiner 20-jährigen Amtszeit dafür gesorgt, dass Migranten in Molenbeek Sozialwohnungen und Stellen im öffentlichen Dienst erhielten.

Nun wird ihm vorgeworfen, mit naiver linker Politik ein Ghetto produziert zu haben, in dem Einwanderer und ihre Kinder nicht nur weitgehend unter sich geblieben sind, sondern wo Arbeits- und Perspektivlosigkeit bei manchen frustrierten jungen Menschen dazu geführt haben sollen, dass sie sich den radikalen Vorstellungen des islamischen Fundamentalismus zuwandten.

Stefan Hertmans, ein belgischer Autor, beschreibt in einem Gastbeitrag für die SZ den verhängnisvollen Einfluss etwa Saudi-Arabiens, das den Salafismus in den belgischen Problemvierteln unterstütze und seine fanatischen Imame auf eine verlorene Generation loslasse. In der Kritik steht zum Beispiel die großzügig vom Königreich unterstützte Brüsseler Mosquée du Cinquantenaire.

Andere Beobachter weisen jedoch darauf hin, dass frustrierte Jugendliche eher über das Internet radikalisiert werden. Insbesondere nach der Einführung des belgischen Verschleierungsverbots 2009 erhielten muslimische Extremisten Zulauf. Hier sahen viele offenbar erstmals die Möglichkeit, eine starke Identität zu entwickeln.

Abschottung und Verbindungen nach Frankreich

Die Abschottung mancher Teile Molenbeeks geht angeblich so weit, dass sie als nahezu rechtsfrei gelten. Und gerade in dieser Abschottung liegt offenbar ein wichtiger Unterschied zu anderen belgischen Gemeinden mit einem ähnlich großen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund.

Ein solcher Ort ist etwa Mechelen, wo jeder zweite Jugendliche marokkanische Wurzeln hat. Von hier aus hat sich noch niemand nach Syrien aufgemacht. Weil man dort aufeinander zugehe und sich die marokkanischen Jugendlichen gegenseitig kontrollieren würden, erklärte Yves Desmet, Chefredakteur der Zeitung De Morgen, vor etwa einem Jahr der SZ.

So stark die Abschottung in Molenbeek aber auch ist: Die jungen Menschen mit nordafrikanischer und arabischer Abstammung, die dort leben, pflegen offenbar enge Verbindungen nach Frankreich. Diese Verbindung spiegelte sich etwa in der Zusammensetzung der Terrorgruppe wider, die die Anschläge in Paris verübte.

"Die Belgier waren naiv", schreibt Hertmans, "sie waren nicht darauf vorbereitet, dass sich die sozialen Probleme der Banlieues, ein Erbe, das bis zum Algerienkrieg zurückreicht, in das französischsprachige Belgien exportieren würde, wo ehemalige Syrienkämpfer aus Frankreich leichter vom Radar der Polizei verschwinden können".

Lasche Sicherheitspolitik

Ein weiteres Problem ist, dass die belgischen Sicherheitsbehörden die Radikalisierung unter den jungen Muslimen nicht scharf genug beobachtet haben. Das dürfte zum Teil an einer schlecht organisierten und zu laschen Sicherheitspolitik liegen.

So konnte die extreme salafistische Gruppe Sharia4Belgium, die Belgien in einen islamischen Staat verwandeln wollte, mehrere Jahre lang öffentlich auftreten. 2012 erklärte sich die Organisation dann selbst für aufgelöst, nachdem ihr Anführer verhaftet wurde. Und erst 2015 wurde sie von einem belgischen Richter schließlich als Terrororganisation bezeichnet.

Schwierig war und ist die Arbeit der belgischen Behörden, weil sich die religiösen Extremisten unauffällig unter die Mehrheit der friedlichen Muslime mischen. So sei es für Menschen mit sehr schlechten Absichten auf der Durchreise leichter, anonym zu bleiben, sagte Molenbeeks Bürgermeisterin Schepmans der Zeitung La Dernière Heure.

Organisiertes Chaos bei Sicherheitsfragen

Eine weitere Ursache ist aber offenbar auch, dass Brüssel bei Sicherheitsfragen "das perfekte Beispiel für organisiertes Chaos" sei, wie etwa Hans Bonte, Bürgermeister der Vorortgemeinde Vilvoorde, vor einigen Monaten kritisierte.

Brüssel ist aufgeteilt in 19 Gemeinden mit jeweils eigenen Bürgermeistern, es gibt sechs Polizeidistrikte, die Stadt ist - wie das ganze Land - gespalten zwischen Flamen und Wallonen, die jeweils niederländisch oder französisch sprechen. Und es gibt flämische Parteien, die ein unabhängiges Flandern von Belgien abspalten wollen. Viel Potenzial für Konflikte und Reibereien also, die effizientes Behördenhandeln behindern können.

Wer sich durch die vielen Artikel liest, die im Lichte der jüngsten Terror-Attacken über Belgien geschrieben wurden, der bekommt jedenfalls den Eindruck, dass der Terrorismus ein Symptom ist in einem Land, das von einer ganzen Menge grundsätzlicher Probleme geplagt wird:

Von Parallelgesellschaften ist da die Rede, von anarchischen Verhältnissen, von zu vielen Kulturen und Religionen, zu vielen Nationalitäten, die alle in dem kleinen Land miteinander auskommen sollen - ohne dass die Politik darauf bislang angemessen reagiert hätte. Manchmal fällt sogar der schlimme Begriff "Failed State", ein gescheiterter Staat.

Nach den aktuellen Anschlägen und den Vorwürfen, denen sich viele Muslime in Belgien und andernorts wieder ausgesetzt sehen werden, ist zu befürchten, dass frustrierte muslimische Jugendliche sich noch stärker ausgegrenzt und abgelehnt fühlen. Es ist ein Teufelskreis - der mit jedem Anschlag neuen Schwung bekommt.

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