Ganze Autobranche von Abgasskandal betroffen

Dass die Ingenieurleistungen der deutsche Automobilbranche weltweit besonders kreativ sind, weiß man seit den Zeiten von Gottfried Daimler, Carl Benz oder Rudolf Diesel. Dass die deutschen Autoleute aber auch bei der Erfindung neuer Begriffe und deren Interpretation mit Einfallsreichtum brillieren, weiß man spätestens seit vergangenem Freitag. „Thermofenster“ heißt das neue Zauberwort, das Verkehrsminister Alexander Dobrindt am Freitag als Ergebnis der „Untersuchungskommission Volkswagen“ dem aktiven Sprachschatz der Deutschen hinzufügte. Dahinter verbergen sich in der Branche beliebte Verfahren, mit denen die Autohersteller die Wirksamkeit ihrer Emissionskontrollsysteme zurückfahren, um Dieselmotoren vor Beschädigung oder Unfall zu schützen. So etwas ist zum Beispiel dann erlaubt, wenn eine bestimmte Außentemperatur unterschritten wird. Offenbar aber, so belehrt uns Minister Dobrindt, waren die Leute bei Audi, Porsche, Mercedes, Volkswagen oder Opel in der Vergangenheit besonders großzügig dabei, wenn es galt, diese Gefahren für den Motor zu sehen und solche „Thermofenster“ zu nutzen. Der Effekt: Es besteht eine große Bandbreite bei der Messung der Stickoxide von Dieselmotoren zwischen der Straße und dem Labor. Die Autos sehen allesamt umweltfreundlicher aus als sie es in Wirklichkeit sind. Furcht vor der amerikanischen Justizmaschine Seit Dobrindts Pressekonferenz ist Aufruhr im Autoland. Denn der CSU-Politiker hat ausgeplaudert, was viele schon lange ahnten: Nicht nur Volkswagen, sondern fast die gesamte Fahrzeugbranche – BMW ist die rühmliche Ausnahme – hat beim Abgas getrickst. 630.000 Fahrzeuge holen die Hersteller jetzt in ihre Werkstätten zurück. Und wirken dabei ziemlich kleinlaut. Ein kleiner, aber nicht unerheblicher Unterschied, blieb bei der ganzen Aufregung allerdings auf der Stecke: Dobrindts Kommission war eingerichtet worden, um zu erkunden, ob neben Volkswagen auch andere Autobauer illegale Abschaltmechanismen verwenden. Dies sei nicht der Fall, konstatierte Dobrindt: „Kein weiteres Fahrzeug verwendet eine Prüfzykluserkennung wie VW“, heißt es in dem Bericht. Ob sie vielleicht andere illegale Software verwenden? Da ist man inzwischen hellhörig, zumal die Leute bei Daimler in Stuttgart inzwischen arg vorsichtig geworden sind und noch nicht einmal mehr sagen wollen, sie hätten keine „defeat devices“ (Betrugssoftware) verwendet, mit denen die Abgasnachbehandlung abgeschaltet werde. Ob sie befürchten, am Ende werde doch noch Dreck am Stecken sichtbar oder ob sie nur übervorsichtig sind aus Furcht vor der amerikanischen Justizmaschine, das weiß man nicht. Verniedlichende „Dieselthematik“ Fakt nach heutigen Stand ist also: VW hat betrogen und den Betrug auch zugegeben. Alle anderen Hersteller von Dieselfahrzeugen haben den legalen Spielraum (Stichwort: Thermofenster) bis zum Krachen gedehnt. Das ist ein Unterschied. Die Grenze zwischen Legalität und Illegalität sollte man in einem Rechtsstaat nicht verwischen. Offenkundig gibt es aber auch bei Volkswagen, wo sie bis heute den Abgasbetrug verniedlichend „Dieselthematik“ nennen, nicht wenige, die den gesetzesbrecherischen Ernst ihrer Lage nicht sehen oder nicht sehen wollen. Obwohl VW in der vergangenen Woche mit 1,6 Milliarden Euro den größten Verlust in seiner Unternehmensgeschichte bekannt geben musste, dank der hohen Rückstellungen zur Abfederung des Dieselskandals in Höhe von 16,2 Milliarden Euro, waren Eigentümer und Top-Manager nicht bereit, aus diesem Jahrhundertereignis für sich selbst Konsequenzen abzuleiten. Das Autogeschäft laufe doch bestens, so ihr Einwand. Alles andere, also der skandalbedingte Verlust, seien Sondereinflüsse, und was habe man persönlich damit zu schaffen. Die Großaktionäre des Konzerns – die Familien Piëch, Porsche und das Land Niedersachsen – dachten gar nicht daran, in einem Verlustjahr auf eine Dividende (wörtlich: Gewinnbeteiligung) zu verzichten. Und die Manager bestanden bis zuletzt auf ihren Boni, allem Druck aus der Öffentlichkeit zum Trotz. Verpflichtungen als Vorstandschef nicht nachgekommen So wurde aus dem groß in Aussicht gestellten freiwilligen Verzicht auf die Boni am Ende eine hübsche Mogelpackung. Denn dieser sogenannte „freiwillige Verzicht“ ist nichts anderes als ein Aufschub, 30 Prozent der Ansprüche sind erst in drei Jahren auszuzahlen. Dieser Betrag nämlich wird in „virtuelle Verzugsaktien“ (abermals eine schöne Sprachschöpfung) umgewandelt und kann dann in Geld umgewandelt werden, wenn der Kurs der Aktien um mindestens 25 Prozentpunkte steigt. Dass gleichwohl in diesem Jahr die Summe der variablen Bezüge eines ordentlichen Vorstandsmitglieds um 39 Prozent (von 5,3 Millionen Euro im Jahr 2014 auf 3,2 Millionen Euro für das Jahr 2015) sinkt, verdankt sich dem Zwang der Bonus-Berechnung, aber nicht der moralischen Einsicht. Einmal mehr hat das VW-Topmanagement bewiesen, dass das ökonomische Gesetz des abnehmenden Grenznutzens („das vierte Bier schmeckt nicht mehr so gut wie das erste Bier“) beim Geld außer Kraft gesetzt ist. Davon kann der Mensch offenbar nicht genug bekommen, allen moralischen (Betrug) oder betriebswirtschaftlichen (Milliardenverlust) Irritationen zum Trotz. Blamiert haben sich auch die Lautsprecher im Aufsichtsrat, allen voran IG Metall-Betriebsrat (Bernd Osterloh) oder Land Niedersachsen (Ministerpräsident Stefan Weil), die sich in den vergangenen Wochen kraftmeiernd den aktiven und ehemaligen Vorständen entgegen gestellt haben. Bis heute ist sich Ex-Konzernchef Martin Winterkorn keiner Schuld bewusst. Selbst wenn er von den Betrügereien nichts gewusst hat, so hat VW inzwischen fast lückenlos dokumentiert wie dramatisch Winterkorn die aus Amerika anrollende Klagewelle unterschätzt hat. Doch Winterkorn bezieht bis heute sein Gehalt samt der jetzt beschlossenen hohen Boni. Freiwillig ist er zu gar nichts bereit. Man müsste ihm schon juristisch nachweisen, dass er seinen Verpflichtungen als Vorstandschef nicht nachgekommen ist, um ihn zum Einkommensverzicht zu zwingen. Gipfel der Frechheit Wenn es doch nur eine Frage der Moral wäre! Doch das noch größere Problem von VW ist nicht die Moral, sondern das System – härter gesagt: der Filz. Volkswagen mag sich zeitweise zum weltgrößten Autohersteller aufgeschwungen haben, was die Einhaltung der Regeln guter Unternehmensführung angeht, liegen sie weit hinten, abgeschlagen am Ende: „Die ganze Corporate Governance ist völlig falsch“, maulen Investoren wie Professoren seit Jahr und Tag. Die einschlägigen Grundsätze werden mit Füßen getreten, lautet die Kritik. Selbst in der jetzigen, nach einhelligem Bekunden schwersten Krise in der Geschichte des Unternehmens soll daran nicht gerüttelt werden – aller Rhetorik von Neuanfang und Kulturwandel zum Trotz. Der Protest hat die regierenden Herrschaften in Wolfsburg bisher kalt gelassen, daran haben auch die Lustreisen und sonstige Skandale nichts geändert. Die Familie hat das Sagen, assistiert von Land Niedersachsen und Gewerkschaftern. Der Betriebsrat fungiert als eine Art Nebenregierung, agiert Hand in Hand mit Management und Eigentümerfamilie. Bernd Osterloh, vom Management fürstlich bezahlter Top-Betriebsrat, soll zugleich als Aufsichtsrat das Top-Management überwachen. Und die Familien wollen die Vorzüge einer börsennotierten Aktiengesellschaft einstreichen, ohne ihre Macht und Stimmrechte aus der Hand zu geben. Nun stecken auch andere Unternehmerclans im Dilemma: Wie komme ich an die Früchte, die der Kapitalmarkt bietet, ohne die Kontrolle über meinen Konzern an wildfremde Leute abzugeben? An Aktionäre, die nicht nur am Gewinn teilhaben wollen, sondern auch noch – Gipfel der Frechheit – mitreden? Das haben die wenigsten gerne, dagegen helfen juristische Konstruktionen, welche die Demokratie der Aktionäre aushebelt: Konstruktionen etwa wie die Kommanditgesellschaft auf Aktien, beispielsweise vom Düsseldorfer Klebstoff- und Kosmetikclan Henkel praktiziert oder eben die Ausgabe von sogenannten Vorzugsaktien. Die sichern dem Teilhaber eine etwas höhere Dividende, dafür verzichtet dieser Eigner auf jede Mitsprache, was den Begriff „Vorzüge“ als pejorativen Hohn erscheinen lässt. Für professionelle Investoren ist eine solche Konstruktion eine Zumutung, für Privatleute mitunter trotzdem profitabel, wenn sie sich mit der Rolle als stummer Kapitallieferant zufrieden geben. Reißaus von Europas größtem Autohersteller Sicher ist: Nur mit dem eigenen Geld stünde der Porsche-Clan nicht da, wo er heute steht. Den Kauf der Mehrheit an Volkswagen hätte selbst die milliardenschwere Familie nicht allein gestemmt, erst Recht brauchte es das Kapital weiterer Teilhaber, um das Wachstum auf ein Dutzend-Marken-Imperium zu finanzieren. Immer wenn es in der eigenen Kasse knapp war, hat der Clan deshalb Vorzugsaktien ausgegeben. Diese Tradition reicht zurück bis Anfang der 80er Jahre, als Ferdinand Piëchs Bruder Ernst seine Porsche-Anteile heimlich an einen arabischen Investor verkauft hatte, der „Ernst-Fall“ wurde damals familienintern zum Code für Verrat. Um die Aktien aus dem Morgenland zurückzuholen, hat man seinerzeit Vorzugsaktien für Porsche an der Börse ausgegeben – Kapital ohne Mitsprache, das lehrt VW, ist der Hebel, um an die Weltspitze zu gelangen. Ohne Mitsprache für familienfremde Aktionäre wohlgemerkt, aber mit hoher Mitsprache für die dominierende Betriebsgewerkschaft IG Metall. Deswegen auch war es so wichtig, dass der Konzern jetzt eine Dividende ausschüttet – dem Rekordverlust zum Trotz. Würden die Vorzugsaktionäre nicht bedient, hätte das für die Familie unangenehme Folgen. So regelt es das Recht, konkret Paragraph 140 des Aktiengesetzes: Zahlt ein Konzern zwei Jahre keine Dividende an die Vorzugsaktionäre, dann dürfen diese plötzlich darüber mitreden, was im Unternehmen zu geschehen hat. Dies war im VW-Reich unbedingt zu verhindern, deswegen jetzt der Griff in die Gewinnrücklagen, um wenigstens eine Miniausschüttung zu mobilisieren: 17 Cent pro Vorzugsaktie, 11 Cent pro Stammaktie. Das hilft den Familien Porsche und Piëch, die 52 Prozent der Stammaktien halten, und so ihren Einfluss verteidigen. Noch wichtiger ist die Ausschüttung für das Land Niedersachsen. Erstens ist jeder zusätzliche Cent aus Wolfsburg ein Segen für die Staatskasse. Vor allem aber muss das Land den Anteil von 20 Prozent halten, diese Schwelle sichert der Politik dank VW-Gesetz umfassende Sonderrechte – noch so eine VW-Spezialität, die mit marktwirtschaftlicher Ordnung nichts zu tun hat. Professionelle Kapitalanleger, gerade die Angelsachsen, nehmen deswegen schon lange Reißaus von Europas größtem Autohersteller. Wenn sie nicht unbedingt müssen, halten sie sich fern von VW-Aktien, so sehr fühlen sie sich missachtet. Lange genug hatten sie kritisiert, dass Wolfsburg sich nicht an die üblichen Regeln von Mitsprache und Kontrolle durch die Aktionäre halte. Alles Bitten, Betteln, Mahnen half nichts, bis die Investoren einsehen mussten: VW ist eine Welt für sich. Mit normalen Maßstäben ist der Konzern nicht zu messen, jeder andere deutsche Autohersteller sei sauberer, hatten die Vermögensverwalter der Deutschen Bank vor Jahren schon bemängelt: „Kein einziger VW-Aufsichtsrat ist unabhängig.“ Und Hans-Christoph Hirt, Vertreter des britischen Pensionsfonds Hermes, verlangt seit langem eine personelle Erneuerung im Aufsichtsrat: Mehr Erfahrung und Kompetenz, weniger Familie, so lassen sich seine Appelle zusammenfassen. Doch im VW-Aufsichtsrat dominieren bis heute die beiden Großfamilien, Seit’ an Seit’ mit Staat und Gewerkschaft. Und der oberste Aufseher heißt Hans Dieter Pötsch: Der Mann war bis Herbst 2015 Winterkorns Finanzvorstand. Seinen Wechsel in den Aufsichtsrat hat er sich mit 20 Millionen Euro vergolden lassen. Da fallen die 2,3 Millionen Euro Verzicht vom Freitag kaum ins Gewicht.