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Meinung Armin Nassehi

Was jetzt zu tun ist – in zwölf Punkten

Junge Männer aus Syrien und dem Irak freuen sich in Nickelsdorf auf die Weiterfahrt nach Deutschland Junge Männer aus Syrien und dem Irak freuen sich in Nickelsdorf auf die Weiterfahrt nach Deutschland
Junge Männer aus Syrien und dem Irak freuen sich in Nickelsdorf auf die Weiterfahrt nach Deutschland
Quelle: dpa
Durch die Flüchtlinge wird Deutschland maskuliner. Wenn wir die Energie dieser vielen jungen Männer nicht kanalisieren, entsteht hohes Konfliktpotenzial. Was für ein Gelingen der Integration notwendig ist.

Die große Hilfsbereitschaft, die sich derzeit Flüchtlingen gegenüber zeigt, ist großartig und spricht für die Weltoffenheit unseres Landes.

Doch diese Hilfsbereitschaft und positive Stimmung wird spätestens dann in Gefahr geraten, wenn es nicht mehr nur um die Ankunft und die ersten Schritte geht, sondern Probleme längerfristig zu lösen sind. Was jetzt ansteht, ist ein großes politisches Projekt. Die politischen Lager unterscheiden sich leider merkwürdig komplementär.

Die einen verschließen die Augen davor, dass die Bundesrepublik längst ein Einwanderungsland ist, und wollen Zuzug möglichst beschränken – zugunsten innenpolitischer Aufmerksamkeit, aber auf Kosten einer dann unkontrollierten, weil unkontrollierbaren Einwanderung.

Die anderen scheinen als Gegenreaktion geradezu zu verleugnen, dass Einwanderung – ob nun als Resultat von Flucht oder als gezielte Einwanderung – Verunsicherungen erzeugt und erhebliche Aufgaben erfordert.

Vielleicht bietet aber die jetzige Situation jenen Kairos, also eine womöglich so nicht wiederkehrende Gelegenheit, auf Einwanderung und Flucht nicht nur wie in den letzten Jahrzehnten im Nachhinein zu reagieren, sondern sie aktiv zu gestalten. Zwölf Punkte dazu.

Punkt 1

Deutschland wird durch Einwanderer und Flüchtlinge nicht „überfremdet“. Unsere Lebenswelten sind schon längst auch ohne Einwanderung pluraler und disparater, als man es sich vor zwei Generationen nur vorstellen konnte. Die Beschreibung Deutschlands und Europas als eines kulturell homogenen Raums, der durch Einwanderung korrumpiert würde, ist schlicht falsch.

Punkt 2

Dennoch wird es auch zu kulturellen Herausforderungen kommen. Es wird womöglich zu einer „Maskulinisierung“ öffentlicher Räume kommen – insbesondere durch junge Männer. Es gilt fast kulturunabhängig: Wer die Energie junger Männer nicht zu bündeln und zu kanalisieren weiß, erzeugt ein hohes Konfliktpotenzial.

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Zumal wenn diese jungen Männer in patriarchalen Traditionen groß geworden sind. Wer vor dieser kulturellen Differenz die Augen verschließt, wird das Risiko von Segregation eingehen und beschwört die Gefahr von Kulturkonflikten hervor, die am Ende zumeist nur Stellvertreterkonflikte für verpasste Lebenschancen sind.

Punkt 3

Die Bildung von Migrantennetzwerken ist für sich genommen noch kein Problem, wenn diese Schnittstellen nach außen ermöglichen. Solche Netzwerke sind oft die erste Chance für Einwanderer, Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt zu erhalten.

Punkt 4

Die entscheidende Bedeutung für die Relativierung solcher Netzwerke wird dann aber Bildungseinrichtungen zukommen, denn Sprache und Bildung werden die entscheidenden Integrationsmedien sein.

Mein lieber Herr Gesangsverein, Emmason ist ein Segen!

Eines Tages stand er einfach da, im Proberaum vom Tegernseer Liederkranz. Emmason Amaraihi kommt aus Nigeria und liebt Musik. Nun mischt er den Tegernseer Männerchor auf. Nachwuchsförderung mal anders.

Quelle: Die Welt

Hier sind erhebliche Anstrengungen vonnöten, die sich aber sicher refinanzieren werden. Sozialer Einstieg und sozialer Aufstieg ist nur durch Bildung möglich – und zwar passgenaue Bildung für Ausbildungsberufe. Das deutsche duale Ausbildungssystem wäre dafür geradezu prädestiniert.

Punkt 5

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Ökonomen und Sozialwissenschaftler sind sich darüber einig, dass mit den sicher steigenden Wanderungsbewegungen der nächsten Jahrzehnte die Aufnahmeländer, nicht die Herkunftsländer von Migration profitieren werden.

Das freilich wird nur gelingen, wenn in den Zielländern nicht einfach abgewartet wird, was mit Migranten passiert, sondern eine aktive Politik gefahren wird, die ich eine „gezielte Inklusion“ nennen möchte.

Dabei geht es nicht um die Privilegierung von Einwanderern, sondern darum, an den entscheidenden Schnittstellen aktiv zu werden: in den Schulen mit geschultem Personal, in Berufsausbildungen mit entsprechender Unterstützung, in den Sozialverwaltungen mit der Aufsicht von Familien, in der Justiz mit der klaren Durchsetzung von Rechten, in Unternehmen mit Ausbildungsprogrammen und auch in den Parteien mit Angeboten für politisches Engagement.

Wie lange hält Kanzlerin Merkel der Kritik stand?

Der Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel wächst. Immer mehr deutsche Politiker fordern eine Begrenzung der Zuwanderung. Sie sehen Deutschland am Rande seiner Aufnahmekapazität.

Quelle: Die Welt

Flüchtlinge und Einwanderer dürfen nicht nur das Objekt von Hilfe sein, sondern müssen sich aus eigener Kraft um ihr Leben kümmern können.

Punkt 6

Dazu bedarf es eines Diskurses, der nicht nur bis zum nächsten Tag reicht, sondern längerfristig ganz unterschiedliche Akteure mit ihren je unterschiedlichen Perspektiven auf Einwanderer und Flüchtlinge zusammenbringt.

Neben der politischen Legislative sind das Wirtschaftsverbände, Handelskammern und Unternehmen, Schulen, Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen, die Sozialverwaltungen und Wohnungsämter, Investoren für Wohnraum, Sozialhilfeeinrichtungen, Kirchen und andere religiöse Organisationen und bürgerschaftliche Organisationen.

Punkt 7

Die Bundesrepublik braucht ein Einwanderungsgesetz. Es gehört zu den Lebenslügen der Diskussion, ein Einwanderungsgesetz erleichtere Einwanderung. Vielmehr formuliert es klare Regeln für einen Aufenthaltsstatus und entsprechende Rechtstitel, die es vermeiden, dass Menschen einen völlig ungeklärten Status haben.

Die Konsequenz heißt dann auch, dass womöglich mehr Menschen abgewiesen werden können und müssen – aber dann mit klaren Regeln und Kriterien und nicht so willkürlich wie heute.

Punkt 8

Das klassische politische Asylrecht stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und ist stark vom Ost-West-Konflikt geprägt. Heutige Fluchtgründe lassen sich nicht mehr so einfach politisch codieren. Es muss ein dem Asylgrund vergleichbarer Rechtsstatus entwickelt werden, der besser zu gegenwärtigen Fluchtgründen passt. Dabei müssen auch humanitäre Gründe eine Rolle spielen.

Punkt 9

Es ist legitim, dass die Bundesrepublik Einwanderung nach selektiven Kriterien regelt. Sollte das Ziel tatsächlich sein, die demografische Schieflage in Deutschland durch Einwanderung zu lösen, haben wir eher zu wenig als zu viel Einwanderung.

Hier entern Flüchtlinge Lastwagen vor dem Eurotunnel

Etwa 200 Flüchtlinge haben den Eurotunnel zwischen Frankreich und England lahmgelegt. Die Migranten waren zu Fuß und auf Lastwagen in den Bahnhof von Calais vorgedrungen und auf die Gleise gelaufen.

Quelle: Die Welt

Mehr Einwanderung freilich darf es nur geben, wenn zugleich eine aktive Integrationsstrategie gefahren wird, die auch von den Ankömmlingen etwas verlangt, denn nur das bricht Lebensformen auf, die sich nur auf Hilfe verlassen.

Punkt 10

Es gibt nicht nur den „Lieblingsflüchtling“ in Gestalt des „gut ausgebildeten Syrers“. Viele Flüchtlinge sind ungelernt, zum Teil Analphabeten und deshalb auch weniger im Fokus derer, die sich an positiven Beispielen orientieren wollen oder die an „kultureller Bereicherung“ interessiert sind.

Auch für diese Personen müssen Nischen gefunden werden, in denen sie mehr sein können als Dauerbezieher von Transferleistungen. Hier ist unternehmerische Kreativität gefragt und zu fördern.

Punkt 11

Um all dies politisch zu bündeln, braucht es ein Migrations- und Integrationsministerium, das nicht nur symbolisch den politischen Willen zu einer aktiven Einwanderungspolitik zum Ausdruck bringt, sondern Integrationskonzepte entwickelt, die wirklich praxistauglich sind.

Eine solche Einwanderungspolitik muss ökonomische, schulische, kulturelle und religiöse Akteure moderieren. Dazu gehört auch eine Neuregelung von Zuständigkeiten und Finanzierungen.

Punkt 12

Viele sprechen von berechtigten Ängsten der Bevölkerung. Ängste entstehen stets dort, wo Situationen als unkalkulierbar gelten oder wo Beschreibungsmöglichkeiten fehlen, in denen man sich einrichten kann.

Die derzeitige Situation ist deshalb durchaus ein Anlass, offensiv und selbstbewusst Selbstverständigungsprozesse darüber anzubieten, wie sich die Bundesrepublik als politisches Gemeinwesen sieht. Das sollte keine neue Leitkulturdebatte werden, eher der Versuch, dass wir unsere Attraktivität für andere zum Anlass nehmen, uns realistischer zu sehen.

Das wird uns dann auch mit jenem Selbstbewusstsein ausstatten, das nötig ist, von allen jene zivilisatorischen Standards zu verlangen, für die die Bundesrepublik steht – und zwar sowohl einheimischen Überfremdungsfantasten wie Einwanderern gegenüber.

Es wäre nicht auszuschließen, dass sich darin womöglich eine Art Patriotismus entwickelt, der sich gerade aus der Integration des Fremden speist und nicht aus der allzu realitätsfernen Erfindung des Eigenen. Schritte in diese Richtung lassen sich gerade beobachten.

Der Autor: Armin Nassehi ist Soziologe und lehrt an der Universität München
Der Autor: Armin Nassehi ist Soziologe und lehrt an der Universität München
Quelle: picture alliance / dpa

Diese zwölf Punkte fassen in etwa zusammen, was in naher Zukunft zu bewältigen ist – und interessanterweise könnten manche Punkte auch auf Einheimische in prekären Lebenslagen angewendet werden. Integrationsfragen stellen sich nicht nur Migranten gegenüber – zumal Migration für die Bundesrepublik eben kein Ausnahmefall ist, sondern die Regel – seit ihrem Bestehen.

Und es könnte sich eine eigentümliche Tradition komplementärer politischer Akteure fortsetzen: Es war ein sozialdemokratischer Kanzler, der den Linksterrorismus der 70er-Jahre mit großer Härte bekämpft hat; es war ein konservativer Kanzler, der als erster ein Umweltministerium gegründet hat; es war ein sozialdemokratischer Kanzler, der Arbeitsmarktreformen durchgesetzt hat.

Vielleicht muss es jetzt eine Kanzlerin aus der Union sein, die für ein Einwanderungsgesetz sorgt.

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Etwa 200 Flüchtlinge haben den Eurotunnel zwischen Frankreich und England lahmgelegt. Die Migranten waren zu Fuß und auf Lastwagen in den Bahnhof von Calais vorgedrungen und auf die Gleise gelaufen.

Quelle: Die Welt

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