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Ausland Syrien

Das unheimliche Comeback der Chemiewaffen

Senior Editor
„Die Situation bricht einem das Herz“

Die Kämpfe in Aleppo halten an. Viele Menschen sind auf der Flucht. Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert dringend mehr Unterstützung für die notleidende Zivilbevölkerung.

Quelle: Die Welt/Larissa Herber

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Ein amerikanisch-russisches Abkommen sollte Giftgaseinsätze im syrischen Bürgerkrieg ausschließen. Doch die Realität hat diesen Plan längst überholt.

Ein Knall ist meist nicht zu hören. Nur ein dumpfer Aufschlag. Manchmal sieht man eine geborstene Metalltonne, aus der Druckbehälter geschleudert wurden. Dann sieht man die Wolken, meist blassgrün oder gelb. Sie riechen intensiv nach Schwimmbad, nach Chlor. Und sie sind schwerer als Luft. Wie Lebewesen kriechen sie über den Boden.

„Dass Chlorgas sich nach unten verteilt, macht es besonders tückisch“, erklärt Ole Solvang von der Organisation Human Rights Watch (HRW). „Weil das Gas absinkt, wird es der Bevölkerung gerade dort am gefährlichsten, wo man bei einem Angriff mit normalen Bomben am sichersten ist: im Keller.“

Die Toten, die nach mutmaßlichen Chlorgasattacken des syrischen Regimes geborgen wurden, habe man fast immer in Kellern gefunden. Und Chlorgasangriffe scheinen in diesem Krieg immer häufiger zu werden – trotz oder gerade wegen des Abkommens zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen, das die USA und Russland 2013 aushandelten.

40 Tote ohne äußere Verletzungen

Während die Industriemetropole Aleppo fällt, verbreitet sich eine zweite, höchst beunruhigende Nachricht, die den Fortgang des Tötens in Syrien noch bedrückender erscheinen lässt: In der Provinz Hama, nicht weit von der Antikenstadt Palmyra, die Truppen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vom Regime zurückerobern wollen, könnte es einen erneuten Giftgasangriff gegeben haben. Eine Bürgerrechtsgruppe vor Ort meldete am Montagabend mindestens 40 Menschen, die nach einem Luftangriff ohne äußere Verletzungen tot aufgefunden worden seien.

Es ist drei Jahre her, dass bei einem Giftgasangriff syrischer Einheiten Hunderte Menschen in der Region Ghouta nahe Damaskus ums Leben kamen. US-Präsident Barack Obama verzichtete seinerzeit darauf, den Chemiewaffeneinsatz wie angedroht mit Luftschlägen gegen die syrische Armee zu vergelten.

A survivor from what activists say is a gas attack rests inside a mosque in the Duma neighbourhood of Damascus August 21, 2013. Syrian activists accused President Bashar al-Assad's forces of launching a gas attack that killed more than 200 people on Wednesday, in what would, if confirmed, be by far the worst reported use of chemical arms in the two-year-old civil war. Syrian state television denied government forces had used poison gas and said the accusations were intended to distract a team of United Nations chemical weapons experts which arrived three days ago. REUTERS/Bassam Khabieh (SYRIA - Tags: CONFLICT POLITICS CIVIL UNREST) - RTX12S8W
Überlebender eines Giftgasangriffs vom August 2013 in der Region Ghouta im Osten der Hauptstadt Damaskus
Quelle: Bassam Khabieh / Reuters

Stattdessen ging er auf einen russischen Vorschlag ein, das gesamte Chemiewaffenarsenal des syrischen Regimes unter Aufsicht der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) vernichten zu lassen. Zumindest Massenvernichtungswaffen sollten in diesem Krieg nicht mehr eingesetzt werden. Es kam anders.

Fassbomben, gefüllt mit Gasflaschen

„Ob die Zahl der Giftgasangriffe gestiegen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, weil die Berichte schwer zu überprüfen sind“, sagt Solvang. „Aber wann immer die Kampfhandlungen intensiver werden, steigt auch die Zahl dieser Berichte. Und die letzte Phase in der Schlacht um Aleppo ist ganz eindeutig so ein Fall.“

Hubschrauber soll Giftgas-Fässer abgeworfen haben

Der Krieg in Syrien wird mit immer größerer Brutalität geführt. Im Norden Syriens, nahe der schwer umkämpften Stadt Aleppo, soll ein Hubschrauber jetzt sogar Giftgas abgeworfen haben.

Quelle: Die Welt

Allein seit dem 1. Oktober habe seine Organisation 14 Berichte über Chemiewaffeneinsätze erhalten, die auf den ersten Blick eine Überprüfung rechtfertigten. „Unsere Schwelle ist relativ hoch“, sagt Solvang. „Wir verlangen eine Dokumentation von Symptomen der Opfer und Bilder von den möglichen Trägersystemen. So wollen wir ausschließen, dass es sich nicht etwa um einen Unfall gehandelt hat.“

Im letzten Fall, den HRW ausführlich geschildert hat, wurden offenbar Fassbomben eingesetzt. Normalerweise sind sie mit Explosivstoffen und scharfkantigen Metallteilen gefüllt, in diesem Fall enthielten sie aber auch Gasflaschen. Sie wurden im September von Hubschraubern über Wohngebieten von Aleppo abgeworfen, die unter Kontrolle der Rebellen standen.

Nur Assads Luftwaffe kommt infrage

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In einigen Fällen versuchte auch der IS, Chemiewaffenangriffe zu führen, mit Senfgas. Doch weder der IS noch die Rebellen besäßen eine Luftwaffe, unterstreicht HRW in dem Bericht zum Angriff vom September. Das bedeutet auch: Als Schuldiger dieses Angriffs kommt praktisch nur das Regime infrage.

Activists and medics manufacture homemade chemical masks in Damascus' suburbs of Zamalka August 23, 2013. Picture taken August 23, 2013. REUTERS/Hadi Almonajed (SYRIA - Tags: HEALTH CONFLICT CIVIL UNREST POLITICS) - RTX12VW3
Bewohner der von Rebellen kontrollierten Gebiete reagierten auf den Angriff vom August 2013 mit dem Bau improvisierter Gasmasken
Quelle: Hadi Almonajed/ Reuters

Doch wie kann eine Regierung Kampfgas einsetzen, deren Chemiewaffenarsenal angeblich seit mehr als zwei Jahren unter internationaler Aufsicht und tätiger Mitwirkung ihrer Schutzmacht Russland vernichtet wird? Solvang hat zumindest den Ansatz einer Erklärung.

„Chemische Kampfmittel im engeren Sinne muss Syrien abgeben. Also Gase und Trägersysteme, die explizit für den militärischen Einsatz hergestellt wurden. Aber Chlor ist ja per se keine Waffe. Man kann es als Wäschebleiche und zur Desinfektion verwenden. Man kann es aber auch zu Gas verarbeiten und damit Menschen angreifen.“ Das Gas, das in jüngster Zeit in Syrien verwendet werde, stamme möglicherweise aus zivilen Beständen. Dafür spricht auch der improvisierte Einsatz mithilfe von Fassbomben.

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Verdacht auf Einsatz von Sarin

„Die militärische Wirkung dieser Chemiewaffeneinsätze besteht offenkundig in der Panik, die sie verbreiten“, erklärt Solvang. „Seit Ghouta haben sie im Vergleich zu anderen Bombardements vergleichsweise wenige Tote gefordert. Aber sie demoralisieren die Bevölkerung besonders, weil ihre potenziell weiträumig vernichtende Wirkung so unberechenbar ist.“

Allerdings soll im Fall des jüngsten Angriffs nahe Palmyra Sarin verwendet worden sein. Bestätigen kann das auch HRW noch nicht. Wenn das jedoch stimmt, dann hätte das Regime tatsächlich noch verbotene Vorräte an Chemiewaffen – und immer weniger Hemmungen, sie einzusetzen.

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