ZEIT ONLINE: Herr Krause, wir leiden im Job unter Dauerstress und gehen sogar krank zur Arbeit – obwohl wir wissen, dass wir uns damit schaden. Warum?

Andreas Krause: Es gibt eine Reihe von Gründen für dieses Verhalten. Erstens: Der Arbeitsdruck ist gestiegen, und wir fühlen uns gegenüber Kunden verantwortlich für das Erreichen geforderter Arbeitsergebnisse. Zweitens: Es gibt keinen Personalersatz, und wir wollen den ebenso belasteten Kollegen nicht zur Last fallen, die betroffen wären, wenn wir ausfielen oder uns streng an die Arbeitszeit hielten. Drittens: Wir denken mittlerweile wie Unternehmer und nicht mehr wie abhängig Beschäftigte, wir wollen Gewinner sein. Viertens: Jeder zweite neue Arbeitsvertrag ist heute nur noch befristetet, und da treibt die Angst davor an, den Job zu verlieren – also das, worüber wir uns zu großen Teilen definieren und das unsere Stellung in der Gesellschaft bestimmt.

ZEIT ONLINE: Die meisten Chefs sagen, sie erwarteten so viel Arbeitseinsatz gar nicht von ihren Beschäftigten.

Krause: Arbeitgeber haben schließlich eine Fürsorgepflicht für ihre Arbeitnehmer. Studien zeigen tatsächlich auch, dass es selten die Anweisung gibt, so viel zu arbeiten oder sogar krank zur Arbeit zu kommen. Dieser Präsentismus ist vielmehr eine Bewältigungsstrategie vieler Menschen, um mit den veränderten Bedingungen in der Arbeitswelt fertig zu werden.

ZEIT ONLINE: Warum denken Mitarbeiter wie Unternehmer? Sie müssten es doch nicht.

Krause: Doch, weil Unternehmen ihre Mitarbeiter heute über Ziele, Zahlen, Benchmarks führen – man nennt das ziel- und ergebnisorientierte Führung oder indirekte Steuerung. Der Chef weist nicht mehr an, was zu tun ist, sondern es werden Ziele ausgegeben. Wie diese erreicht werden, liegt in der Verantwortung der Beschäftigten. Oft werden Standorte, Abteilungen, Teams und sogar einzelne Mitarbeiter miteinander in Konkurrenz über Kennzahlen gesetzt, etwa wenn es darum geht zu ermitteln, wer am kostendeckendsten arbeitet und den meisten Umsatz macht. Da wird der freie Markt gewissermaßen am einzelnen Mitarbeiter simuliert.

ZEIT ONLINE: Das klingt schrecklich.

Krause: Das ist es aber nicht unbedingt, denn es kann sehr motivierend sein, wenn man solche Ziele erreicht. Es ist ja auch eine Legitimation für den Standort, den Job, das Gehalt oder den Bonus. Gefährlich wird, wenn sich die Marktsituation ändert oder es eine Wirtschaftskrise gibt und die Ziele nicht angepasst werden. Riskant ist auch, wenn es zu Zielspiralen kommt.

ZEIT ONLINE: Was ist das?

Krause: Das ist eine neue Form der Leistungssteuerung. Von Jahr zu Jahr werden die Ziele automatisch angehoben. In den ersten Jahren erreicht man die immer höheren Ziele vielleicht noch. Doch das Erreichen bedeutet für das Folgejahr immer eine Zielsteigerung. Also bekommen die Mitarbeiter irgendwann Angst vor dem eigenen Erfolg – weil sie nicht mehr wissen, wie sie diesen im Jahr darauf noch steigern sollen. Dann haben auch absolute Leistungsträger das Gefühl, den Anforderungen kaum noch gerecht werden zu können.

ZEIT ONLINE: Das muss das oberste Management doch merken. Irgendwann steigen die Krankenstände, und viele Mitarbeiter schaffen die Ziele nicht mehr.

Krause: Bis so ein Zustand vom Topmanagement bemerkt wird, kann es sehr lange dauern. Druck und Dauerstress werden erstaunlich lange ertragen und vielfach verschwiegen. Um mit Druck fertig zu werden, suchen sich die Mitarbeiter die unterschiedlichsten Strategien. Sie kommen etwa krank zur Arbeit, arbeiten freiwillig am Wochenende und umgehen gut gemeinte Vorschriften etwa zur maximal erlaubten Arbeitszeit. Besonders tückisch: Die Mitarbeitenden und auch ihre direkten Führungskräfte weisen selbst nicht mehr auf Überlastsituationen hin, weil sie die Erfahrung machen, das bringt nichts. Wenn ich auf Schwierigkeiten im Projekt hinweise und dann Zeit fressende Berichte schreiben und mich rechtfertigen muss, mache ich das nur einmal. Hinzu kommt: Die oberste Leitungsebene tauscht sich nur mit der darunter aus, hat aber keinen Einblick in die Basis. Deren Probleme kommen darum bei der Unternehmensführung oft gar nicht an. In der Beratung erzählen mir Führungskräfte, wie sie ihre Mitarbeiter bei Befragungen anweisen, auf keinen Fall wahre Angaben zu machen.

ZEIT ONLINE: Wie wurde denn früher geführt?

Krause: Wer Leistung zeigte, wurde mit einem hohen Gehalt, einem Dienstwagen, mit Arbeitsplatzsicherheit und anderen Privilegien belohnt. Also: Wir geben dir Privilegien und dafür identifizierst du dich als Mitarbeiter voll und ganz mit dem Unternehmen. Das hat sich gewandelt, nicht zuletzt durch die Digitalisierung, aber auch durch andere Einstellungen zur Arbeit. Sie ist nicht mehr nur Broterwerb, sondern soll uns Sinn und Erfüllung geben. Wir definieren uns über unsere berufliche Tätigkeit.

Unternehmen machen sich das zunutze. Darum müssen Unternehmen keine teuren Boni zahlen, um Mitarbeiter zu motivieren. Sie konfrontieren die Mitarbeiter mit Kennzahlen, appellieren an das das persönliche Leistungs- und Autonomiestreben, und fordern dazu auf, dass jeder Mitarbeiter, jedes Team seinen Nutzen für das Unternehmen nachzuweisen hat. Oder neue spannende Aufgaben werden übergeben, ohne dass ein zeitlicher Ausgleich bereitgestellt wird. Und die Mitarbeiter beuten sich dann scheinbar freiwillig selbst aus. Wir nennen dieses Phänomen interessierte Selbstgefährdung. Ein gutes Beispiel ist dafür die Vertrauensarbeitszeit.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Krause: Eigentlich ist Vertrauensarbeitszeit ein tolles Instrument – aber eines, mit dem indirekt die Leistung gesteuert wird. Das Unternehmen gibt dem Mitarbeiter die Freiheit, sich die Arbeitszeit selbst einzuteilen; es gibt nur das Ziel vor. Das führt dazu, dass meist mehr gearbeitet wird. Das liegt natürlich an dem Ziel, aber auch an der sozialen Eigendynamik. In einem Team, in dem alle mehr als die im Arbeitsvertrag vereinbarten acht Stunden arbeiten, möchten viele nicht der Ausreißer sein, der pünktlich nach Hause geht. Das Verrückte dabei: Das passiert auch in Firmen, in denen der Chef die Mitarbeiter dazu aufruft, pünktlich zu gehen. Es kommt sogar vor, dass Unternehmen Angebote für eine bessere Work-Life-Balance machen, die Mitarbeiter diese aber nicht nutzen mit der Aussage: Wir haben dafür keine Zeit.

ZEIT ONLINE: Wie kommt das?

Krause: Ich glaube, dass viele Beschäftigte noch in der alten Arbeitswelt verhaftet sind und sich im vorauseilenden Gehorsam noch nicht trauen, die Freiheiten einer indirekten Führung auch auszunutzen. In manchen Unternehmen würde vielleicht gar nichts passieren, wenn sich die Mitarbeiter trauten, Arbeit liegen zu lassen und ihre Arbeitszeit einzuhalten. Und da wo es nicht möglich ist, braucht es ein starkes Mittelmanagement mit Rückgrat, das der Führung mitteilt, wie die realen Zustände sind. Kurzum: Das Reflektieren und das aktive Aushandeln der eigenen Arbeitssituation wird wichtiger. Warum tue ich heute etwas, das ich auf die Dauer kaum durchhalten kann? Das Paradoxe: Gerade weil dieses selbstgefährdende Verhalten nicht von einer "bösen" Führungskraft angewiesen wird, ist es schwieriger zu ändern. 

ZEIT ONLINE: Was kann man noch tun? Wie sieht ein gutes betriebliches Gesundheitsmanagement in der neuen Arbeitswelt aus?

Krause: Der einzelne Betroffene kann versuchen, seinen Handlungsspielraum radikaler auszuloten, möglichst zusammen im Team. Was passiert, wenn ich vorgegebene Ziele infrage stelle oder Erwartungen an allzu kurze Reaktionszeiten und an eine Erreichbarkeit am späten Abend ablehne, wenn ich Erholung und Sport in meinen Arbeitsalltag integriere und dafür an einzelnen Besprechungen fehle?

Führungskräfte auf mittlerer Ebene müssen gegenüber der Unternehmensleitung einstehen und ausreichend Puffer planen – das ist auch wichtig, um mal Erfolge genießen zu können. Es ist beispielsweise sinnvoll, die Mitarbeiter nur noch zu 80 Prozent und nicht zu 100 Prozent in Projekte einzuplanen. Dann sind 20 Prozent Arbeitszeit zunächst nicht verplant, aber man hat Spielraum für Unvorhergesehenes und gerät nicht an die Grenze der Belastbarkeit, sobald so etwas geschieht.

Außerdem braucht es eine realistische Arbeitszeiterfassung. Auch bei Vertrauensarbeitszeit sollten Arbeitnehmer das Recht haben, zu dokumentieren, wie viel sie gearbeitet haben. Das alles setzt natürlich viel Reflexion voraus. Hier ist die Unternehmensleitung gefragt, solche Räume zum Nachdenken zu schaffen. Das bedeutet, die Unternehmensleitung muss Austausch zu Problemen und sogar kritische Gedanken fördern. Und sich an "Wenn-schon-denn-schon" orientieren: Wenn Mitarbeitende wie Selbstständige handeln sollen, dann bitte auch ein Maximum an Freiräumen ermöglichen – und Eigeninitiative und Kundenorientierung bloß nicht in Prozessstandardisierungen, widersprüchlichen Zielen und allzu bürokratischem Controlling ersticken.