Am 1. November machte der Spiegel-Journalist Hasnain Kazim nach vielen geduldigen Korrespondenzen mit rechten Hatern (Post von Karlheinz) eine ebenso klare wie umstrittene Twitter-Ansage: Es gehe nicht darum, "AfD-Wählerinnen und AfD-Wähler zu 'erreichen'", so schrieb er. Es gehe vielmehr darum, "sie auszugrenzen, zu ächten, ihnen das Leben schwer zu machen, sie dafür, dass sie Neonazis und Rassisten den Weg zur Macht ebenen wollen, zur Verantwortung zu ziehen".

Verena Weidenbach lebt mit ihrer Familie in München. Sie arbeitet freiberuflich als TV-Autorin und -Übersetzerin und schreibt politische Texte für den Blog "Starke Meinungen". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

Kazim weiß, wovon er spricht. Als AfD-kritischer Publizist und Deutscher mit indisch-pakistanischen Wurzeln erhält der Wien-Korrespondent des Spiegels seit Jahren Hasspost und Morddrohungen aus dem Lager der vermeintlich "Besorgten" – genauso wie unzählige andere Menschen, die sich öffentlich gegen Rechtsextremismus positionieren oder einzig aufgrund ihrer Abstammung als "Feinde Deutschlands" attackiert werden. Für sie alle dauern die "Baseballschlägerjahre" der frühen Neunziger noch immer an, sind rechte Übergriffe eine Gefahr, mit der jederzeit zu rechnen ist, ist der Alltag feindseliger geworden und das Vertrauen in die Schutzmechanismen des Staates brüchiger. Wie berechtigt ihre Ängste sind, beweisen die Morde an dem Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie Jana L. und Kevin S. in Halle – rechtsterroristische Gewalttaten, die nicht nur von AfD-Spitzenpolitikern wie dem vormaligen Rechtsausschuss-Vorsitzenden im Deutschen Bundestag, Stephan Brandner, sondern auch von anderen Parteimitgliedern und Anhängern auf zynische Weise kommentiert wurden.

Antipluralistische "Ausgrenzung"?

Kazims Antwort auf diese Bedrohung ist ein radikales und aus persönlicher Betroffenheit durchaus hart formuliertes Bis-hierher-und-nicht-weiter – ein Appell, den sozialen Gegendruck zu erhöhen und kulturelle Hemmschwellen zum Schutze all jener zu errichten, die nach Ansicht von AfD-Anhängern nicht dazugehören, stören und im Zweifelsfall "entsorgt" werden müssen. Doch wer dieser Tage nach "Ächtung" und "Ausgrenzung" blaubrauner Sympathisanten ruft, stößt mithin selbst in bürgerlichen Kreisen auf Unverständnis und irritierende Abwehrreaktionen: Nicht nur, dass er in den Verdacht gerät, die eigenen liberalen Werte zu verraten und "antipluralistisch" zu agieren. Er muss sich zugleich des Vorwurfs erwehren, Gauland und Co. genau das zu geben, was sie – vermeintlich – am meisten stärkt. Denn Rechte – so das weit verbreitete Credo – heischen nach Ausschluss, um sich als Opfer des Mainstreams zu inszenieren und auf diesem Wege bis weit in die Mitte hinein Anhänger zu mobilisieren. Wer das nicht einsieht, outet sich im Zweifelsfall als taktisch unbedarfter Linker mit Pawlowschen "No pasarán!"-Reflexen – und zeigt ganz nebenbei, dass er nicht mit den einschlägigen Strategiediskussionen der Neuen Rechten vertraut ist.

Neurechte Stärkesimulationen

Nun sind die Primärtexte aus dem rechtsintellektuellen Umfeld der Partei ohne Zweifel aussagekräftig – allen voran die taktischen Empfehlungen, die der einflussreiche Vordenker der AfD und Stichwortgeber der neuen Rechten, Götz Kubitschek, in seiner Zeitschrift Sezession veröffentlicht. Doch so viel in seinen und den Artikeln anderer Autoren von hilfloser "Ausgrenzeritis" der "Linken" zu lesen ist, von "Selbsterdrosselung der 'Zivilgesellschaft'" und dem Nutzen, den die AfD angeblich aus den totalitären Abwehrschlachten der Gegner ziehe, so wenig sollte man dem Überlegenheitsgestus dieser Texte Glauben schenken.

Tatsächlich handelt es sich hierbei keineswegs um nüchterne Lageeinschätzungen, sondern um propagandistische Stärkesimulationen und Durchhalteparolen für die eigene Klientel, die gerade in Phasen der Stagnation mit einem immer gleichen polittheologischen Heilsversprechen beschallt wird. Tenor: Die "Linke" sabotiere durch ihre "Ächtungs"-Kampagnen die "Normalisierung" der AfD. Doch ihre Siege seien in Wahrheit Niederlagen: angstgetriebene Versuche, den unaufhaltsamen Aufstieg der Rechten mit allen erdenklichen Zwangsmitteln abzuwenden.

Es ist befremdlich, wie unkritisch diese Erbauungslyrik aus dem neurechten Schützengraben in den vergangenen Monaten in der deutschen Öffentlichkeit rezipiert wurde und wie sehr sie dazu beigetragen hat, die Überlegenheitsaura einer Partei zu nähren, die – vermeintlich – stets im Voraus weiß, was ihre "linken" Feinde im Schilde führen. Ein ums andere Mal geht man der rechten Selbstdarstellung auf den Leim, wenn man das Problem nicht mehr bei den Rechten selbst, sondern bei ihren Gegnern sucht. Bei jenen, die Podien mit Rechten boykottieren, die gegen die Präsenz rechter Verlage auf der Buchmesse protestieren oder antifaschistische Straßenbündnisse auf die Beine stellen.

Erfolgreiche Stigmatisierung

In Wahrheit spricht nämlich vieles dafür, dass die Versuche, die AfD durch "Ächtung" und Ausgrenzung kleinzuhalten, keineswegs "spektakulär gescheitert" sind, wie Jan Fleischhauer in seiner Replik auf Kazims Appell behauptet. Die jüngeren  Debatten in der Sezession und die aktuelle Praxis der AfD belegen vielmehr das genaue Gegenteil: Die namentlich im Westen noch immer wirksame Stigmatisierung der Partei als rechtsextremistische, rassistische und potenziell faschistische Bewegung ist für die Blaubraunen ein ernsthaftes Problem. Denn sie allein verhindert aus Sicht von Kubitschek und Co, dass auch in den alten Bundesländern erreicht wird, was im Osten längst gelungen ist: das Heraustreten aus der Non-Profit-Zone rechter Randständigkeit und die Mobilisierung einer breiten Massenbasis, die nur durch den Anschluss der "bürgerlichen Mitte" gelingen kann.

Die "emotionale Barriere" zwischen dem "Normalbürger und seiner Hinwendung zur politischen und vorpolitischen Alternative" sei "wirkmächtiger als jedes Verbotsverfahren", schrieb Kubitschek bereits 2017 unter dem Schlagwort "Selbstverharmlosung". Den Zweifel, ob das "Unkalkulierbare" nicht vielleicht zu Recht verteufelt werde, beschreibt er als "Kobold auf der Schulter des Wählers, der sein Kreuzchen bei der AfD setzen will". Diese Barriere erschwert die offene Vernetzung der Rechten mit Sympathisanten in westdeutschen Verbänden, Unternehmen und Behörden. Und sie verhindert auf breiter Ebene noch immer, was sich Kubitschek und Co. nach dem Erfolg des Buches Mit Rechten reden so inständig erhofft hatten: "Normalisierungsgespräche", um bestehende Hemmschwellen abzubauen.