Politik

Anruf im belagerten Kobane "Hier liegen die Leichen von IS-Kämpfern"

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(Foto: REUTERS)

Idriss Nassans Arbeitsplatz ist wohl der furchteinflößendste Ort der Welt. Er ist Sprecher der kurdischen Kämpfer in Kobane. n-tv.de konnte ihn per Telefon in der belagerten Stadt erreichen. Ein Gespräch über Krieg, Krankheiten und Hunger.

n-tv.de: Wie ist die Gefechtslage?

Idriss Nassan: Unsere Volksverteidigungseinheiten der YPG hatten wieder heftige Zusammenstöße mit den Kämpfern des Islamischen Staates (IS) - vor allem in den östlichen und südöstlichen Vororten der Stadt. Der IS hatte es auf neue Vorstöße ins Stadtzentrum angelegt, doch die Terroristen scheiterten.

Idriss Nassan: "Ich glaube nicht, dass Kobane ohne zusätzliche Hilfe der internationalen Gemeinschaft noch lange überleben kann."

Idriss Nassan: "Ich glaube nicht, dass Kobane ohne zusätzliche Hilfe der internationalen Gemeinschaft noch lange überleben kann."

Der IS greift Kobane an drei Fronten an - von Süden, Osten und Westen. In den vergangenen Tagen versuchten die Dschihadisten die Straße Richtung türkischer Grenze im Norden einzunehmen, um die Stadt endgültig einzukesseln ...

Die YPG konnten den Angriffen standhalten.

Wie viel von Kobane kontrolliert der IS noch?

Vor zwei, drei Tagen hatte der IS noch mehr als 30 Prozent der Stadt in der Hand - zeitweise sogar um die 40. Aber jetzt kontrollieren sie nur noch 15 bis 20 Prozent von Kobane.

Was steckt hinter dieser Wende?

Die Luftangriffe der internationalen Allianz werden immer effektiver, auch weil es eine bessere Abstimmung mit unseren Kämpfern am Boden gibt. Die Jets der Koalition konnten Kommandozentralen und Gefechtsstände des IS treffen. Unseren YPG-Kämpfern gelang es so, verlorene Gebiete wieder einzunehmen – unter anderem das Hauptquartier der Sicherheitskräfte.

Wie steht es um die Truppe? Wie viele YPG-Kämpfer haben die heftigen Kämpfe der vergangenen vier Wochen überhaupt überlebt?

In der Stadt sind noch Tausende unserer Kämpfer. Und jeden Tag melden sich neue Freiwillige aus der Türkei.

Stellt es keine Hürde mehr dar, Nachschub und Soldaten in die Stadt zu holen?

Die Türkei macht die Grenze zu - für alles. Natürlich haben wir noch dieses Problem. Wir brauchen einen Korridor, über den Waffen und Munition zu uns kommen können. Aber abgesehen von den Schwierigkeiten auf militärischer Seite spielt sich auch eine gewaltige humanitäre Krise in Kobane ab. Die Zivilisten sind in großer Not. Vor allem brauchen wir daher einen humanitären Korridor.

Zivilisten? Aus Ankara heißt es, die gibt es in Kobane gar nicht mehr.

Es gibt noch Tausende Zivilisten in der Stadt und weitere an der Grenze zur Türkei. Einige sind schon gestorben, weil sie keine Medikamente bekommen haben. Und da die türkische Grenze fast immer geschlossen ist, verloren andere ihr Leben, als sie stundenlang am Übergang auf Hilfe warteten.

Die humanitäre Lage wird also weiterhin schlimmer.

Es liegen etliche Leichen von IS-Kämpfern in der Stadt herum, durch die Krankheiten drohen. Wir brauchen Mittel, um mit solchen Zuständen umzugehen.

Machen Ihnen die jüngsten militärischen Erfolge Hoffnung, dass Ihre YPG Kobane schnell ganz von der Belagerung befreien kann?

Der IS kontrolliert mittlerweile so viele Städte in Syrien. Er kann seine Männer jede Minute mit neuen Waffen und neuer Munition ausstatten. Gerade kann der IS große militärische Fortschritte im Irak machen. Von der Provinz Al-Anbar haben die Terroristen schon 80 Prozent eingenommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis erbeutetes Militärgerät von dort nach Kobane kommt.

Das klingt nicht allzu optimistisch ...

Der internationalen Allianz gegen den IS ist klar: Nur mit Luftangriffen kann sie diese Terroristen nicht besiegen. Sie braucht Bodentruppen. Unsere YPG könnten diese Truppen sein, aber nur, wenn sie vernünftig ausgerüstet sind. Ich glaube nicht, dass Kobane ohne zusätzliche Hilfe noch lange überleben kann.

Mit Idriss Nassan sprach Issio Ehrich

Quelle: ntv.de

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