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Großmacht-Gelüste Das ist Putins Neurussland

Präsident Putin wünscht sich ein "Neurussland" mitten in der Ukraine: einen Staat von Moskaus Gnaden. Doch die Region ist keine russische Exklave und die Bevölkerung sehr unterschiedlich. Ein Überblick.
Russischer Präsident Putin: "Schutz russischer und russischsprachiger Bürger"

Russischer Präsident Putin: "Schutz russischer und russischsprachiger Bürger"

Foto: RENTSENDORJ BAZARSUKH/ REUTERS

Der Begriff "Noworossija - Neurussland" ist nicht so eindeutig, wie er sich anhört. Es gibt mehrere Definitionen:

  • Die selbsterklärten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk haben sich zu einer losen "Konföderation Neurussland" zusammengeschlossen. Sie kontrollieren allerdings nur rund ein Drittel der Fläche der bisherigen Provinzen Luhansk und Donezk.
  • Spricht der Kreml dagegen von "Neurussland", hat er in der Regel weite Gebiete im Osten und Süden der Ukraine im Blick. So nannten die Zaren die Provinzen ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Wladimir Putin hat den Begriff vor einigen Monaten wieder in den breiten Diskurs eingebracht. Während seiner jährlichen TV-Fragestunde im April sagte er: "Das ist Neurussland". Er machte gleich klar, welche Städte er dazu zählt: neben Donezk und Luhansk auch Charkiw, Cherson, Mykolajew und Odessa, insgesamt ein Gebiet mit rund 14 Millionen Einwohnern. Diese Territorien seien zu Sowjetzeiten - "Gott weiß warum" - der Ukraine "übergeben" worden.

Mit „Neurussland“ bezeichnet der Kreml russisch-geprägte Gebiete in der Südostukraine. Mit Verweis auf eine Zarenprovinz gleichen Namens im 18. und 19. Jahrhundert begründet der Moskau heute Ansprüche, Einfluss auf das Schicksal der Südostukraine zu nehmen.

Mit „Neurussland“ bezeichnet der Kreml russisch-geprägte Gebiete in der Südostukraine. Mit Verweis auf eine Zarenprovinz gleichen Namens im 18. und 19. Jahrhundert begründet der Moskau heute Ansprüche, Einfluss auf das Schicksal der Südostukraine zu nehmen.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Die Moskauer Argumentation des "historisch russischen Neurusslands" ist ein relativ neues Phänomen. Zuvor war meist die Rede von "Kiew als Mutter aller russischen Städte". Die Neurussland-Rhetorik könnte eine Reaktion auf das Verhalten der Bürger in der ukrainischen Hauptstadt sein: Sie sprechen zwar im Alltag gern russisch, wollen sich von Moskau aber nicht vereinnahmen lassen.

Der Begriff "Neurussland" suggeriert, dass es sich um ein homogenes Gebiet handelt, das zu Unrecht Teil der Ukraine ist und dessen Bevölkerung klar russisch orientiert ist.

Die Realität ist aber weniger eindeutig.

Sprache und russische Identität

Putin will „russische Bürger“ in der Ukraine verteidigen. Im Südosten des Landes sprechen zwar fast alle im Alltag russisch, als russischstämmig bezeichnet sich aber nur eine Minderheit.

Putin will „russische Bürger“ in der Ukraine verteidigen. Im Südosten des Landes sprechen zwar fast alle im Alltag russisch, als russischstämmig bezeichnet sich aber nur eine Minderheit.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Putin spricht oft von Moskaus Verpflichtung zum "Schutz russischer und russischsprachiger Bürger" im Südosten der Ukraine. 80 bis 95 Prozent der Einwohner in der Region sprechen im Alltag bevorzugt russisch. Als "russischer Abstammung" bezeichnen sich dagegen in Luhansk nur 39 Prozent der Menschen und in Odessa 20,7 Prozent. Im Gebiet Cherson, das an die Halbinsel Krim angrenzt, sind es lediglich 14,1 Prozent.

Tatsächlich ziehe sich "ein Graben zwischen Ost und West", sagt der deutsche Historiker Jochen Hellbeck. Diese Kluft habe allerdings viel weniger mit der Sprache zu tun als gemeinhin behauptet.

Politik

Im Süden und Osten lagen die Bastionen von Ex-Präsident Wiktor Janukowytschs "Partei der Regionen". Entsprechend niedriger war dort auch die Unterstützung der Maidan-Revolution. Im Osten gaben laut Umfragen nur sieben Prozent an, die Proteste "stark zu unterstützen", im Süden waren es elf Prozent (Westen: 66 Prozent).

Präsident Petro Poroschenko bekam zwar bei den Wahlen in Odessa ordentliche 43 Prozent. Gleichzeitig gaben aber in der Schwarzmeerstadt nur noch 48 Prozent ihre Stimme ab (2010: 63 Prozent). Das legt den Schluss nahe, dass sich viele Bürger im Süden von den zur Wahl stehenden Kandidaten schlecht repräsentiert fühlten.

Außenpolitische Orientierung

Den besten Eindruck von den politischen Einstellungen der Ukrainer vermitteln Umfragen, die im Frühjahr erhoben wurden - vor dem Ausbruch der heftigen Kämpfe in Donezk und vor der Eskalation des ukrainisch-russischen Propagandakriegs.

Daten des Meinungsforschungsinstituts Gallup zeigen, dass beispielsweise im Süden des Landes zwar viele unzufrieden sind mit der Führung in Kiew. Gleichzeitig sehen sie aber auch Russland mit großer Skepsis. Im Frühjahr waren dort nur 28,4 Prozent der Meinung, der Kreml spiele eine "positive Rolle in der Krise". Auf der Halbinsel Krim waren es dagegen 71,3 Prozent, im Osten 35,7 Prozent.

Andererseits zeigte die Erhebung ebenfalls keine klare Unterstützung für eine Westorientierung des Landes. Im Osten waren nur 19 Prozent der Meinung, die Ukraine sollte der EU beitreten, im Süden waren es 26,8 Prozent (Westen: 84,2 Prozent).

Wirtschaft

Die ukrainische Wirtschaft durchläuft allerdings einen langsamen Strukturwandel. Manche Zechen und Stahlwerke im Osten sind auf Subventionen angewiesen, die Produktion schrumpft. Die Wirtschafskraftt im Westteil ist geringer, wächst aber dynamischer.

Die ukrainische Wirtschaft durchläuft allerdings einen langsamen Strukturwandel. Manche Zechen und Stahlwerke im Osten sind auf Subventionen angewiesen, die Produktion schrumpft. Die Wirtschafskraftt im Westteil ist geringer, wächst aber dynamischer.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Der Südosten ist die wirtschaftlich stärkste Region der Ukraine. Im Osten liegen Stahlöfen und Kohleschächte, im Süden wichtige Häfen. Die statistisch erfassten Monatseinkommen sind in Donezk deutlich höher als im Westen des Landes (2013: ca. 340 Euro im Gebiet Donezk gegenüber 260 Euro im Gebiet Lwiw im Westen). Landesweit liegen die tatsächlichen Einkommen allerdings wohl deutlich höher. Um Steuern zu sparen, zahlen viele Firmen rund die Hälfte der Gehälter schwarz aus.

Aber: Der Osten ist auch das wirtschaftliche Sorgenkind der Ukraine. Stahlwerke und Kohlebergbau werden stark subventioniert, die Steuereinnahmen aus dem Donbass decken die Ausgaben in den Regionen nur zu rund 40 Prozent. Zechen auf der russischen Seite der Grenze wurden dagegen schon vor langer Zeit geschlossen. Die Folge ist eine Wachstumsschwäche der Ostukraine. Das Wachstum im Westen war zuletzt höher.

Das Herz der ukrainischen Industrie schlägt im Osten des Landes, das zeigt auch die Einkommensverteilung. In Donezk im Osten war das Durchschnittseinkommen 2013 mit 3700 Griwna (umgerechnet 340 Euro) deutlich höher als im Westen.

Das Herz der ukrainischen Industrie schlägt im Osten des Landes, das zeigt auch die Einkommensverteilung. In Donezk im Osten war das Durchschnittseinkommen 2013 mit 3700 Griwna (umgerechnet 340 Euro) deutlich höher als im Westen.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Fazit

Der Süden und Osten der Ukraine sind stark russisch geprägt, die Unterschiede zum Westen des Landes wiegen schwer. Gleichzeitig nehmen prorussische Stimmungen zwischen Donezk und Odessa ab, und nirgendwo sind sie auch nur annähernd so hoch wie auf der Krim.

Selbst eine von den Separatisten im Frühjahr erhobene Umfrage brachte keine klare Mehrheit für einen Anschluss von Donezk an Russland. 26,5 Prozent der Bürger wollten damals ihre Stadt am liebsten als Teil Russlands sehen. 26 Prozent waren allerdings der Meinung, alles solle bleiben, wie es war. 14 Prozent wollten einen eigenen Staat Donbass. 16 Prozent hätte eine Föderalisierung der Ukraine genügt.

Nach drei Monaten Krieg hat die Umfrage von damals heute keine Aussagekraft mehr. Sie zeigt aber, wie unterschiedlich die Meinungen tatsächlich in dem Gebiet sind, das Putin lapidar als "Neurussland" für Moskau beansprucht.