Les Murray ist tot – Australien verliert seinen bedeutendsten Dichter

Les Murray, der insbesondere mit seinem Versepos «Fredy Neptune» Weltgeltung erlangte, ist 80-jährig verstorben. Der aus bescheidensten Verhältnissen stammende Lyriker galt lange als Anwärter auf den Literaturnobelpreis.

Jan Wilm
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Les Murray bei einer Lesung in der National Gallery in Canberra. (Bild: Alan Porritt / EPA)

Les Murray bei einer Lesung in der National Gallery in Canberra. (Bild: Alan Porritt / EPA)

Eine der schönsten Lyriklesungen besuchte ich 2011 im Literaturhaus Frankfurt, als Les Murray in der Stadt war. Bis dahin hatte ich den australischen Dichter für einen nicht nur geografisch Unerreichbaren gehalten, für einen alle ästhetischen und humanistischen Fassungen sprengenden Giganten. Da sass er, im Wollpullover an einem Sommerabend, liebevoll lächelnd.

Ich hoffte, er würde vielleicht eines seiner besten Gedichte lesen, «Burning Want», das mit der unvergleichlichen Zeile beginnt: «From just on puberty I lived in funeral». Darin fasst der Dichter mit bohrender Selbstsezierung, aber ganz leichtfüssig seine schwere Autobiografie: die provinzielle Kindheit und Jugendzeit, die unter dem Schatten von Tod und Trauer stand, da seine Mutter nach seiner Geburt im Jahr 1938 nur noch Fehlgeburten erlitt und an den Komplikationen einer solchen starb, als er zwölf war. Das Gedicht erinnert an sein Aussenseitertum, an Einsamkeit und Ablehnung durch Gleichaltrige, die er aufgrund seines Übergewichts erlitt.

Vollkommenes Denken

Das ländliche Bunyah-Tal, in dem Murray geboren wurde und dessen rustikale Landschaft die Settings und Stimmungen vieler seiner Werke in der naturlyrischen Tradition der «bush poetry» prägen sollte – er kehrte dem Ort seiner schmerzenden Kindheit 1957 den Rücken. In Sydney studierte er moderne Sprachen, unter anderem Germanistik; seit 1965 hat er gegen dreissig Gedichtbände veröffentlicht. 1988 kehrte er mit Frau und Kindern nach Bunyah zurück und erlitt prompt eine schwere Depression, von der er mit Schmerz und Humor in seinem Erinnerungsband «Der schwarze Hund» (2009) erzählt.

Damals in Frankfurt kreiste er in Lesung und Gespräch behutsam, in zugleich verrätselten und apodiktischen Formulierungen um die Verbindungen von Religion und Dichtung. Für seine Ehefrau war Murray zum Katholizismus konvertiert und liess die Gretchenfrage allerorts in seine Lyrik einfliessen. Seine schönsten Worte über die Dichtung sind daher geprägt von einem Lyrik und Religion gleichsetzenden Verständnis des Göttlichen: wenn er etwa «das einzig vollkommene Denken: Dichtung» nennt und es heisst: «Es wird immer Religion geben, solange es Dichtung gibt / oder einen Mangel an ihr.»

Neben Gedichten schrieb er Essays und zwei Versromane, unter denen das Epos «Fredy Neptune» (1998) in einer Reihe mit Derek Walcotts «Omeros» und gar den homerischen Epen genannt wurde. Es erzählt von Friedrich «Fredy» Boettcher, einem deutsch-australischen Seemann, und seiner bald fünfzig Jahre andauernden Odyssee durch die Ozeane der Erde und die Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Wie hier verband Murray stets die ernsten, feierlichen Töne mit harten und humorvollen Klängen und Wörtern. In «Fredy Neptune» vermengt er spielend die Bilder des politischen Horrors mit ironischen Einsichten und sehr viel Witz, vermischt den australischen Slang mit deutschen Lehnwörtern und zwirbelt Wortspiele über den Bodensee in sein Seemannsgarn um einen australischen Metzgerssohn, der erkennt, dass das Menschenleben ein letztlich nicht zu beschreibendes Chaos ist.

Roh und zärtlich

Les Murray versuchte es dennoch, in einer singulären Dichtung, die roh und zärtlich, hitzig und versöhnlich, barock und existenzialistisch zugleich ist; mit zahlreichen Preisen wurde sie gewürdigt, unter anderem dem T. S. Eliot Prize. Nur den Nobelpreis, für den er seit Jahrzehnten als Anwärter galt, bekam er nie.

An jenem Abend im Frankfurter Sommer meinte ich, dass einem wie ihm Preise nicht wichtig sein konnten, dass er immer etwas abseits existierte, so wie uns die Dichter manchmal erscheinen, selbst wenn wir uns täuschen – wie ein Mensch, der schon viel weiter war, während die Welt noch in der chaotischen Gegenwart feststeckt.

Ich schüttelte seine Hand, und bis heute habe ich den kindlichen, aber nicht weniger hoffnungsvollen Gedanken, meine eigene Hand trage durch seine Berührung etwas von der Grösse und der Menschlichkeit dieses unvergleichlichen Dichters. Und ich möchte einen Moment bei dem Gedanken bleiben, dass die Welt, gewiss die Weltliteratur, etwas von dieser Menschlichkeit und Grösse beibehalten wird, konserviert in seinen Werken. Les Murray verstarb am 29. April im Alter von 80 Jahren in Taree in der Nähe seines Geburtsorts.

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