Die Sonne scheint, aber eine frische Brise weht durch Hamburg. Tausende Bürger finden sich am Samstagnachmittag vor der Kunsthalle ein, um unter dem Motto „Das Maß ist voll – Hände weg von unseren Kindern!“ durch die Stadt zu gehen.
11.500 sollen es am Ende sein – es ist der größte Protest des Wochenendes in der Bundesrepublik. Die Menschen protestieren gegen eine Impfpflicht, die Spaltung der Gesellschaft und die Corona-Maßnahmen. Mehrere Gegenkundgebungen wurden angemeldet; die Polizei ist mit bis zu 800 Beamten im Einsatz.
Als sich die Demo aufstellt, entdecke ich rund 20 Pflegekräfte, die sich blaue Kittel und Masken übergezogen haben. Eine von ihnen erklärt mir, sie empfinde eine Impfpflicht als Gewalt, als körperlichen Eingriff, sie habe grundsätzlich nichts gegen Vakzine, sie sei auch gegen Corona geimpft. Ihre Sorge sei aber, dass die Corona-Impfung nicht so wirksam ist wie gedacht.
Bei der Polizei ist man zu Beginn entspannt, geht man davon aus, dass bis auf ein paar Ordnungswidrigkeiten alles störungsfrei verlaufen werde, da die Veranstalter routiniert seien. Tatsächlich werden Redner alle paar Minuten per Durchsage dazu aufrufen, friedlich zu bleiben, den Anweisungen der Polizei Folge zu leisten und die Maskenpflicht einzuhalten.
Viele Teilnehmer sind wütend ob der Auflage, die „der Bürgermeister, der es mit den Zahlen nicht so genau nimmt“ verhängt hat. Sie sehen darin ein Mittel der Politik, Masken-kritische Personen von der Demo fernzuhalten („Wer Zwang gebraucht, hat in einer Demokratie versagt“). Für die Unwilligen gäbe es auch die Alternative, mehrere Meter vom Zug entfernt mitzulaufen – dann sei man kein Teilnehmer mehr, sondern Passant.
Gegen 16 Uhr setzt sich die Versammlung in Blöcken von je 200 Personen in Bewegung. Am Ferdinandstor steht die erste Gegenkundgebung, die von den Jusos angemeldet wurde. Etwa 50 junge Erwachsene halten Banner wie „Fairdenken statt Querdenken“, „Wer mit Nazis marschiert, der hat gar nix kapiert“ oder „Wir impfen euch alle“ hoch. Ich frage eine Teilnehmerin, die ein Plakat mit der Aufschrift „Impfen statt Schimpfen“ trägt, ob sie nachvollziehen könne, dass manche unter den Corona-Maßnahmen leiden. Doch, sagt sie, sie sei hier, um ins Gespräch zu kommen. Ihre Begleiterin meint: „Die denken wahrscheinlich, wir haben Angst, und wir denken, die haben Angst. Wir haben wahrscheinlich alle einfach Angst.“
„Nazis raus!“, rufen die Leute
Die beiden wollen sich nicht festlegen, ob das da drüben alles sogenannte „Querdenker“ sind – der Begriff sei zu unklar. Als die beiden Demozüge aufeinandertreffen, ist die Anspannung der Polizisten kurz spürbar. Ich werde angewiesen, nicht direkt vor der Polizeikette zu stehen, das sei zu gefährlich. Auf beiden Seiten hagelt es Pfiffe; vereinzelt werden Beleidigungen ausgetauscht. Ein paar Bannerträger zeigen den vorbeilaufenden Demonstranten den Stinkefinger und schreien „Nazis raus!“.
Der aktuelle Redner der großen Versammlung greift das auf, und bald skandieren auch dort die Teilnehmer diese Parole: “Nazis raus!” - von beiden Seiten. Ein anderer Demo-Redner lobt die Polizei für den Schutz und bezeichnet die „schwarz gekleideten, größtenteils 0- bis 19-Jährigen“ auf der anderen Seite als die eigentlichen Nazis.
Deren Redner geht nicht darauf ein, sondern fordert eine „solidarische Impfpflicht“. Nachdem der Protest vorbeigezogen ist, löst sich die Gruppe auf. Es ist inzwischen dunkel geworden, der Weihnachtsbaum in der Binnenalster leuchtet wunderschön. Adventsstimmung. Viele Teilnehmer tragen Kerzen oder Taschenlampen, um ein „Zeichen für die körperliche Selbstbestimmung“ zu setzen. Die Versammlung sei eigens eine Stunde nach hinten verlegt worden, um ein “Lichtermeer, das um die Welt geht”, zu ermöglichen. Immer wieder kommt zur Sprache, dass Bürgermeister Peter Tschentscher offenbar falsche Inzidenzen für Ungeimpfte und Geimpfte genannt und damit Politik gemacht hatte.
Gebrannte Mandeln und Demonstranten
Die Spitze des Zuges kommt beim „Weißen Zauber“ an. Der Geruch von gebrannten Mandeln liegt in der Luft: Der eingezäunte 2G-Weihnachtsmarkt, über den die Geimpften schlendern, wirkt wie eine Parallelwelt zur Demo der Wütenden. Auf den ersten Blick sind die zwei Gruppen jedoch kaum zu unterscheiden – viele Protestler haben ihre Hunde dabei; mir fallen auch einige Mütter, die Kinderwägen vor sich hin schieben, auf.
Die Hamburger sehen dem Treiben größtenteils entspannt zu; einzelne rufen „Ihr solltet euch schämen“ oder „Halt dein Maul“. Ein Redner spricht direkt zu den Demo-Beobachtern: „Wir würden auch gerne in den Einzelhandel oder auf den Weihnachtsmarkt gehen, aber leider können wir das nicht, obwohl wir dieselben Tests wie die 2G-Befürworter benutzen.“ Namentlich kritisiert werden besonders Bürgermeister Tschentscher und und die Sozialsenatorin Melanie Leonhard (wegen der als unverhältnismäßig empfundenen Maßnahmen für Kinder). Manche fordern die „Absetzung“ des gesamten Senats, andere werben für eine Volksinitiative zum „Kinderschutz in Not- und Krisenzeiten“.
Die Wortbeiträge sind eine Mischung aus Positionen, die auch von Parlamentsabgeordneten, etwa der FDP, vertreten werden, und ganzheitlicheren Ansätzen, die als krude Verschwörungstheorien oder Wissenschaftsverzerrung einzuordnen sind. Wie auch am Mittwoch in München skandieren die Teilnehmer vor allem „Friede, Freiheit, Selbstbestimmung“. Die Parole haben inzwischen sogar die Jüngsten verinnerlicht. Der Demo-Zug ist so lang, dass er fast einmal um die Binnenalster herumreicht.
„Stolz“ auf die Polizei
Gegen 19 Uhr ist die Spitze des Zuges wieder an der Kunsthalle angelangt. Ein Redner verabschiedet die Teilnehmer und bedankt sich bei der Hamburger Polizei - er sei “stolz” auf sie.
Die Menge applaudiert den Beamten. Die Versammlung wird eine Stunde früher als geplant beendet. Einigen taugt das nicht, sie grölen und hupen laut. Ich kriege mit, wie eine Ordnerin beschimpft wird, weil es keine Abschlusskundgebung gibt. Per Megafon wird darum gebeten, die Musik auszumachen. Die große Masse hat sich aber inzwischen aufgelöst - die Polizei gibt den Verkehr wieder frei und zieht ab.
Das Fazit der Einsatzkräfte: eine körperliche Auseinandersetzung, ein Flaschenwurf. Als die Täter flüchteten, wurde eine unbeteiligte Frau von ihnen umgelaufen und durch einen Sturz verletzt. Im Aufzugsverlauf kam es zu zwei Festnahmen und zwei Ingewahrsamnahmen. Sieben Platzverweise wurden erteilt.
Ansonsten, so die Beamten, verlief die Demo „störungsfrei“.