Digital Kontakte nachverfolgen und so den Ausbruch des neuen Coronavirus eindämmen: Mit dieser Vorstellung wurde die Corona-Warn-App beworben. Doch nach zweieinhalb Monaten sind viele ernüchtert und haben sich eine oft nicht allzu positive Meinung über die App gebildet. Aber ist die auch immer richtig? ZEIT ONLINE überprüft acht Mythen.

1. "Die haben doch sowieso nicht genug Menschen heruntergeladen, damit das was bringt!"

60 Prozent. Diese Zahl wird immer dann erwähnt, wenn es um die Effektivität von Apps zu Kontaktnachverfolgung geht. 60 Prozent der Bevölkerung müssten demnach die App nutzen, damit sie etwas bringt. Die Zahl geht zurück auf eine Untersuchung der Universität Oxford aus dem Frühjahr – und auf eine Fehlinterpretation der Ergebnisse. In der Studie steht zwar, dass die Pandemie erst dann wirksam unterdrückt werden könne, wenn 56 Prozent der Bevölkerung die App nutzten.

Es ist aber komplizierter: Erstens sei die Tracing-App in dem Modell die einzige Maßnahme gegen das Virus gewesen, sagte eine an der Studie beteiligte Forscherin im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. In der Realität müsse die App die Arbeit nicht allein machen; es gebe schließlich noch weitere, klassische Methoden der Kontaktnachverfolgung. Und zweitens ging es in dem Modell darum, die Pandemie nachhaltig zu stoppen. Das ist natürlich weiterhin das ultimative Ziel, aber mittelfristig soll die Corona-Warn-App vor allem dabei helfen, die Gesundheitsämter bei ihrer Arbeit zu unterstützen – indem sie Risikokontakte aufspürt, die zufällig im öffentlichen Raum stattgefunden haben und die über klassisches Contact-Tracing nicht auffindbar wären. Das ist im Fall einer möglichen zweiten Welle im Herbst wichtiger denn je. 

Betrachtet man die Corona-Warn-App also nicht als alleiniges Mittel, sondern als Teil eines großen Anti-Corona-Werkzeugkastens, kann sie selbst dann helfen, wenn nur ein Teil der Bevölkerung sie nutzt. Laut den Forschenden aus Oxford genüge schon eine Verbreitung von etwa 15 Prozent, um einzelne Infektionsketten zu brechen. 

Aber was ist mit der Meldung, dass zu wenige Menschen die Corona-Warn-App nutzen? Ein Mitglied des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen hat am Wochenende der Welt am Sonntag gesagt, die Zahl der App-Downloads müsse sich verdoppeln, damit die App "wirklich etwas bringt" – erst dann sei man auf eine zweite Ansteckungswelle besser vorbereitet. Derzeit liege die Wahrscheinlichkeit, dass ein Infizierter und seine Kontaktperson beide die App nutzen, bei nur sechs Prozent. Schon im Juni veröffentlichte der gleiche Sachverständigenrat für Verbraucherfragen ein Papier zur Wirksamkeit der deutschen Corona-Warn-App, in dem unter anderem eine Modellrechnung enthalten war. Darin wird zum Beispiel kalkuliert, dass bei einem Infektionsgeschehen von 5.000 Neuinfektionen pro Tag und 60 Prozent der Bevölkerung, die die Corona-Warn-App nutzen, gerade einmal 36 Prozent der Kontakte durch die App verfasst werden könnten. Würden nur zehn Prozent aller Deutschen die App nutzen, wäre es nur ein Prozent. Diese Rechnung ist recht basal: Effekte wie der, dass in bestimmten Communitys ein Gruppendruck entstehen kann, die App zu nutzen, und damit die Wahrscheinlichkeit steigt, andere App-Nutzer zu treffen, oder dass durch die freiwillige Selbstisolation von App-Nutzern auch Menschen geschützt werden, die die App nicht nutzen, sind nicht mit eingerechnet.

Natürlich gilt: Je mehr Menschen die App nutzen, desto besser. Wirkungslos ist sie aber auch jetzt nicht. In Deutschland kommt die App nach Angaben des Robert Koch-Instituts derzeit auf 17,5 Millionen Downloads. Nutzt sie auch jede und jeder, der sie heruntergeladen hat (wovon natürlich nicht auszugehen ist), würden sie bereits 20 Prozent der Menschen in Deutschland verwenden. Das bewegt sich zwar weiterhin am unteren Rand der Effektivität. Aber zu behaupten, sie würde deshalb nichts bringen, ist falsch.

2. "Da meldet sich doch eh keiner als infiziert!"

Wer positiv auf Covid-19 getestet wird, kann danach selbst entscheiden, ob er das Ergebnis über die App veröffentlicht und somit überhaupt erst einleitet, dass alle Kontakte der vergangenen 14 Tage, die über die App pseudonymisierte Zufallsschlüssel des Infizierten empfangen haben, gewarnt werden. Damit Menschen nicht fälschlicherweise in der App angeben können, dass sie sich mit dem Virus infiziert haben, müssen Nutzerinnen und Nutzer ihren positiven Corona-Test verifizieren. Dafür benötigen sie entweder einen QR-Code, der bereits beim Test ausgegeben wird. Oder sie erhalten bei einer Hotline telefonisch eine teleTAN, die sie dann in die App eintragen.

Laut den aktuellsten Zahlen des RKI wurden etwas mehr als 2.100 solcher teleTANs vergeben. Dass jemand eine teleTAN angefordert hat, bedeutet natürlich nicht automatisch, dass er sie auch tatsächlich in die App eingegeben hat, um andere vor einem erhöhten Risiko zu warnen. Allerdings muss man sich fragen: Weshalb dann überhaupt die Mühe machen und bei der Hotline anrufen, wenn man das Ergebnis nicht teilen möchte? 

Zusätzlich funktioniert inzwischen die Möglichkeit, über einen QR-Code nicht nur sein Testergebnis abzurufen, sondern es darüber auch in der App zu verifizieren. Zum Start der App war das noch nicht der Fall. Das lag daran, dass viele Testlabore noch nicht an die notwendige technische Infrastruktur angebunden waren. Laut dem Gesundheitsministerium ist das inzwischen bei etwa der Hälfte aller Labore vollständig der Fall, das RKI berichtet in einer Mail an ZEIT ONLINE von zwei Dritteln aller Labore. Außerdem fehlten zunächst die Formulare mit den nötigen QR-Codes. Haben App-Nutzerinnen und -Nutzer der Übermittlung der Testergebnisse via QR-Code zugestimmt, ihn gescannt und korrekt in der App hinterlegt, kann die automatische Übermittlung der Testergebnisse funktionieren. 

Doch Zahlen darüber, wie viele Nutzerinnen und Nutzer über diesen Weg ihre Infektion in der App gemeldet haben, hat das RKI bislang noch nicht veröffentlicht. Genauso wie es aus Datenschutzgründen auch keine Angaben dazu macht, wie viele Menschen sich über die App insgesamt als infiziert gemeldet haben. Darum kann man diesen Wert nur schätzen. Der Chemiker und Programmierer Michael Böhme macht das auf seiner Website, indem er die öffentlich zugänglichen Diagnoseschlüssel herunterlädt und die vom System zusätzlich erstellten Fake-Schlüssel (sie dienen der Anonymität) wieder herausrechnet. Seiner Schätzung nach wurden bis zum 25. August 2.089 Diagnoseschlüssel von positiv getesteten Personen über die App geteilt – eine Zahl, die zu den vergebenen teleTANs passen würde. 

Wenn Programmierer Böhme nun die Zahl der Menschen, die sich über die App als infiziert meldeten, mit den Neuinfektionen korreliert, kommt er zu dem Ergebnis, dass zuletzt im Schnitt fast sechs Prozent aller Neuinfektionen auch über die Corona-Warn-App geteilt wurden. Auch wenn diese Zahlen wie gesagt auf Schätzungen basieren, zeigen sie, dass die App durchaus von Infizierten genutzt wird, um andere Menschen zu warnen. So wie es auch gedacht ist.