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Ausland Lieferungen von AstraZeneca

„Brüssel will, dass Briten sterben, damit Europäer leben können“

Korrespondentin in Washington
Krisengespräch bringt keine Lösung im Streit mit AstraZeneca

Im heftigen Impfstoffstreit zwischen der Europäischen Union und AstraZeneca gibt es weiterhin keine Lösung. Nach dem Hickhack um ein Treffen gab es in Brüssel ein Krisengespräch. Doch die Ansichten über den geschlossenen Vertrag könnten unterschiedlicher nicht sein.

Quelle: WELT/Isabell Finzel

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Der Streit um Impfstoff-Lieferungen erzürnt Großbritannien. Die Presse im Vereinigten Königreich wirft Brüssel vor, mit „Impf-Imperalismus“ ihr Land zu gefährden, um das eigene Missmanagement zu vertuschen. Premier Boris Johnson spielt der Eklat in die Hände.

Am Donnerstagmorgen boten die Titelseiten im Vereinigten Königreich ihren Lesern fast ausnahmslos das gleiche Thema: Die Drohung der Europäischen Union, dass AstraZeneca seinen in Großbritannien produzierten Impfstoff auf den Kontinent liefern müsse. „Nein, die EU kann unseren Impfstoff nicht haben“, lautete die Schlagzeile des auflagenstärksten Blattes „Daily Mail“. Das Wort „nicht“ mit einem dicken Balken unterstrichen.

Der Eklat zwischen der EU-Kommission und dem Pharmariesen ist für die Brexit-freundlichen Medien im Königreich ein Freudenfest. „Brüssel will, dass Briten sterben, damit Europäer leben können. Das ist eine forsche Forderung“, beginnt ein Kolumnist des „Daily Telegraph“ seinen aktuellen Kommentar. „Die Rollen der vergangenen vier Jahre haben sich jetzt wohl vertauscht. Jetzt sind die EU-Technokraten die Populisten, die Impf-Imperialisten.“

Wütende Presse: „Nein, die EU kann unseren Impfstoff NICHT haben“, lautet die Schlagzeile der „Daily Mail“
Wütende Presse: „Nein, die EU kann unseren Impfstoff NICHT haben“, lautet die Schlagzeile der „Daily Mail“
Quelle: Daily Mail; picture alliance / NurPhoto/Pedro Fiuza

Äußerungen des Chefs von AstraZeneca, Pascal Soriot, hatten den Streit zwischen Brüssel und London weiter eskalieren lassen. Im Interview mit WELT hatte Soriot erklärt, dass die EU ihren Vertrag eben später abgeschlossen habe als Großbritannien, wo das AstraZeneca-Mittel bereits genutzt wird. Insgesamt werde die EU „fair behandelt“, so der Leiter des Pharmakonzerns. Das erzürnte wiederum Brüssel. Schließlich hatte der Konzern weit mehr Impfstoff für EU-Länder zugesagt, als er nun tatsächlich liefern kann. Die EU-Kommission pocht jedoch auf die vereinbarten Liefermengen – zum Unmut der Briten.

Auch der bekannte ehemalige Kolumnist des „Daily Telegraph“, Englands Premierminister Boris Johnson, gab den Europäern einen verbalen Klaps. Obwohl dieser, gemessen an früheren Tonlagen Johnsons, geradezu staatsmännisch und zurückhaltend ausfiel. Am Mittwochnachmittag wies Johnson im Unterhaus darauf hin, dass es „sehr schade“ gewesen wäre, wenn sein Land sich dem EU-Beschaffungsprogramm angeschlossen und nicht einen eigenen Weg gegangen wäre. Die Beiläufigkeit seiner Aussage ist auffällig.

Mehr als sieben Millionen Briten sind geimpft

„Ich denke, wir waren in der Lage, die Dinge anders zu machen, und in gewisser Hinsicht besser“, sagte Johnson, der tags zuvor noch die traurige Marke von mehr als 100.000 Covid-Toten im Vereinigten Königreich hatte bekannt geben müssen. Zumindest mit Blick auf das britische Impfprogramm hat der Konservative aber zweifelsfrei recht. 7,16 Millionen Briten hatten bis Mitte dieser Woche bereits die erste Impfung bekommen. Fast eine halbe Million von ihnen sogar die zweite. Deutschland dagegen nähert sich erst langsam der Marke von zwei Millionen.

Johnson kommt seinem Ziel stetig näher, bis Mitte Februar die höchsten Risikogruppen (Menschen in Pflegeheimen, solche mit schweren Vorerkrankungen und Senioren über 70 Jahre) zumindest mit einer Dosis immunisiert zu haben. Derweil musste Gesundheitsminister Jens Spahn verkünden, dass der Versorgungsengpass in Deutschland noch mindestens zehn Wochen anhalten werde.

Für viele britische Kommentatoren scheint es offensichtlich, dass der Konflikt zwischen Brüssel und AstraZeneca in Wahrheit nur vom schlechten Management der EU-Kommission ablenken solle. Der Pharmariese müsse nun als Prügelknabe herhalten.Die „Financial Times“ warnt vor Erwägungen der EU-Kommission, als Konsequenz nun möglicherweise den Export von Impfstoffen zu blockieren. Stattdessen solle „Brüssel zugeben, dass es die Sache hätte besser machen können, und beginnen, mit den Arzneimittelherstellern und nationalen Regierungen das Problem zu lösen“, schreibt die renommierte Zeitung.

Während Brüssel also selbst verschuldet mit dem Rücken zur Wand steht, bietet der Impfstreit eine willkommene Plattform. Plötzlich ist es die Regierung in London, die auf Kooperation und Zusammenarbeit setzt, gerade mit den früher so oft kritisierten europäischen Partnern.

„Wir sind noch am Anfang (der Impfstoffentwicklung), und es ist sehr, sehr wichtig zu erinnern, dass die Impfstoffe ein internationales Projekt sind. Wir hängen von unseren Freunden und Partnern ab, und wir werden weiterhin mit unseren Freunden und Partnern in der EU und anderswo arbeiten“, betonte Johnson am Mittwoch.

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Auch sein Gesundheitsminister Matt Hancock warnte vor „Impf-Protektionismus“ und forderte einen „globalen, fairen Zugang“ zu Vakzinen. „Wir sind weltweit der größte Financier für die Entwicklung von Impfstoffen“, erklärte Johnsons Parteifreund. Da gerät schnell in Vergessenheit, dass London sich im Wettlauf um den Impfstoff zuerst die Zulassung besorgte und das als Erfolg der neuen Eigenständigkeit feierte.

Virus Outbreak Britain
Boris Johnson besucht eine Produktionsstätte des Covid-19-Impfstoffes in Livingston, Schottland
Quelle: AP/Wattie Cheung

Was sich hier politisch abzeichnet, ist eine neue politische Positionierung nach dem Brexit. Leitbild: Ein „globales Großbritannien“. Tatsächlich kommt die Corona-Pandemie in diesem einzelnen Punkt geradezu gelegen. Denn die Regierung kann jetzt in der Krise die britische Stärke als Standort für die Entwicklung hochmoderner Medikamente und Therapien ausspielen.

Im Juni 2021 soll im englischen Cornwall der G7-Gipfel stattfinden, bei dem Johnson sein Land als „Science Superpower“, als „Wissenschaftssupermacht“ präsentieren will. Natürlich im Dienste der ganzen Welt. Nicht „nur“ als Mitglied der Europäischen Union.

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