Der Präsident Emmanuel Macron dekretierte am siebten Tag das Ende der Revolte: „Die Ordnung ist wiederhergestellt“, sagte er im Ton einer Frontmeldung. Unter Einsatz von 45.000 Mann, „außergewöhnlicher Mittel und einer exemplarischen Justiz“ habe man den Aufstand der Vorstadtjugend im Keim erstickt. Weitergehen, es gibt nichts zu sehen!
Schmierentheater. Macron und seine Sicherheitsdienste wissen, wie prekär die Ruhe ist. Sonst hätte Innenminister Gérald Darmanin für den Nationalfeiertag am 14. Juli kaum 157.000 Sicherheitskräfte auf die Straßen geschickt. Der Präsident selbst mochte sich kein beschwichtigendes Wort abringen. Lieber surft er auf der Angst der Besitzenden und Eliten – zehrt von deren Klassenhass. Sie waren einigermaßen erschrocken, als am Abend des 27. Juni, nur wenige Stunden nach dem Polizeimord an dem 17-jährigen Nahel, das halbe Land in Flammen stand. Eine spontane Rebellion, unkoordiniert, wild, ohne politische Organisation, samt Straßenkämpfen und Plünderungen. Gut 100 Firmenchefs waren so schockiert, dass sie sich für eine neue, inkludierende Wirtschaftspolitik aussprachen. Macron stellte sich taub.
Manche Städte sagten den Nationalfeiertag kurzerhand ab. Immerhin erinnert der 14. Juli an den Sturm des Pariser Volkes auf die Bastille von 1789 zum Auftakt zur Französischen Revolution. Der Kopf des Bastille-Kommandeurs endete damals auf einem Spieß. Übrig geblieben von der revolutionären Trilogie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ist 2023 nur noch eine Militärparade auf den Champs-Élysées. Macron nahm sie Seite an Seite mit dem indischen Premier Narendra Modi ab, der mit dem „Großkreuz der Ehrenlegion“ zum Kauf französischer Rafale-Jets animiert wurde.
Emmanuel Macron mimt nun den Candide. Niemand habe den Brand der Banlieue voraussehen können, erklärt er vor Bürgermeistern, darunter jenen Gewählten, die ihn nur sechs Wochen zuvor per Notruf vor der kommenden Explosion gewarnt hatten. So ist Macrons Stil, eine Mischung aus neoliberaler Kante, gekränktem Narzissmus und Verhöhnung. Nun müsse man wohl ergründen, sagte er, warum die „Autorität der Republik“ bei der Jugend in den Vorstädten nichts mehr gelte.
Das stärkste Motiv ist die Klassenfrage
Das war ein verächtlicher Satz zu viel. Zornig konterte Jean-François Bayart, ein angesehener Sozialwissenschafter, Macron habe nun wohl „jeden Kontakt mit der Realität des Landes verloren“. Bayart hat den Thinktank der Elitehochschule Sciences Po geleitet, er sprach gleichsam stellvertretend für weite Teile der französischen Intelligenz. Tatsächlich ist kaum ein Konfliktraum so akribisch ausgeleuchtet wie die Vorstädte. Vier Generationen von Forschenden können leicht benennen, warum sich dort viele Jugendliche als potenzielle Nahels verstehen. Die alltägliche Gewalt und Erniedrigung durch eine rassistisch verseuchte Polizei, immer wieder Tote, ein Rückzug der öffentlichen Dienste, von Post, Nahverkehr, Gesundheitsfürsorge, Schule. Die Diskriminierung bei Ausbildung und Jobsuche. Miserable Aussichten, auf die sich kein Lebensentwurf gründen lässt.
Klar weiß Bayart, dass Macron weiß. Im Wahlkampf 2017 hatte der Kandidat einen „großen Plan Banlieue“ versprochen. Nach der Wahl versenkte er ihn eigenhändig, wenn den zahllosen Selbsthilfeorganisationen dieser Quartiere, die noch eine Ahnung von sozialem Frieden vermittelten, die Zuschüsse gestrichen wurden. Später fiel der soziale Wohnungsbau unters Spardiktat. Die Banlieue sah sich von den Macronisten unter den Generalverdacht der Sezession und des Islamismus gestellt. Heute brechen alle Dämme, es agitieren Neofaschisten wie Eric Zemmour für den „Bürgerkrieg der Rassen“ und gegen die „Besetzung durch fremde Horden“. Der Unterschied zum Bürgerblock hält sich in Grenzen, wenn hemmungslose Thesen zur Krisenlösung triumphieren. Der Präsident legitimiert das durch sein Wort „Entzivilisierung“, also eigentlich: Barbarisierung.
Welche bizarren Blüten das treibt, enthüllte ein Medienflop. Der Nachrichtensender BFM1 wollte der harten Rechten wieder mal die Suppe reichen. Auf einem Schaubild sollten die 20 häufigsten Vornamen der 3.000 verhafteten Rebellen gezeigt werden. Als die Grafik erschien, erblasste der geladene rechte Parlamentarier: Es gab da zwar auch Alis und Mohammeds, aber vorwiegend Davids, Hugos, Brians und Alexis ... Die Immigration spielte bei dieser Revolte nur die zweite Rolle, der Islamismus gar keine. Stärkstes Motiv war die soziale Lage, also die Klassenfrage.
Die Menschen in den Vorstädten waren stets Betroffene – eines forcierten neoliberalen Umbaus, der Corona-Auflagen, der Klimaerosion und ihrer Folgen. Insofern erscheint das Beben der Banlieue als Symptom einer umfassenderen Systemkrise. Die Erschießung Nahels wirft ein Schlaglicht auf Polizeigewalt, wie sie gegen linke und ökologische Demonstranten waltet. Das Versagen des Service public in den Vorstädten erreicht längst die Zentren. Sogar Macron ist nur ein Symptom, der bislang letzte Statthalter für neoliberale Willkür. Professor Bayart liest, was in der Asche des Aufruhrs geschrieben steht: „Frankreich kippt. Die ‚illiberale‘ Falle schnappt zu.“