Pflegeversicherung Der Ausweg aus dem Pflege-Dilemma

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Quelle: imago images

Gesundheitsminister Lauterbach hat einen Gesetzentwurf zur Pflegeversicherung vorgelegt. Die steckt im Minus, zugleich steigen die privaten Kosten für Betroffene stark. Es gibt keine einfache Lösung – aber einen Ausweg.

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Zu spät und zu wenig – das ist das Urteil von vielen Seiten zum Gesetzentwurf, mit dem Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Probleme für Hilfebedürftige wie Pflegeprofis lösen will. Der Entwurf sieht zur Jahresmitte höhere Beiträge vor. Ab 1. Juli sollen Eltern 0,35 Punkte mehr und dann 3,4 Prozent des Bruttolohns abführen. Kinderlose zahlen dann einen Zuschlag von 0,6 Punkten und künftig 4,0 Prozent. Von zwei Kindern an soll der Satz um 0,15 Punkte je Kind sinken. Damit wird ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt, dass die Zahl der Kinder besser berücksichtigt wissen wollte. Außerdem fließt mehr Geld in die Versicherung, die im Minus ist.

Lauterbach will auch die stark gestiegenen privaten Kosten der Menschen in Pflegeheimen begrenzen. Dazu soll es ab 2024 höhere Zuschläge geben. Das Pflegegeld, das für Unterstützung zu Hause gezahlt wird, soll ebenfalls steigen. Kritiker bemängeln zur Anhörung der Verbände an diesem Donnerstag, die Aufschläge lägen unter der Inflation und kämen zu spät.

Immerhin bekommen inzwischen rund fünf Millionen Menschen Leistungen dieser Sozialkasse, und sicher noch einmal so viele sind als Angehörige an der Pflege beteiligt. Fünf von sechs der Betroffenen werden zuhause betreut. Rund 800.000 Menschen leben in Pflegeinrichtungen, knapp ein Drittel von ihnen benötigen Sozialhilfe, um die Betreuungskosten bezahlen zu können. Dieser Anteil wird nach Prognosen der Pflegeversicherung weiter steigen, gerade wenn Pflegekräfte bessergestellt werden.

Dieses Dilemma entsteht, weil die Pflegekassen nur einen Teil der Kosten übernehmen, den Rest müssen die Bewohner selbst zahlen. Oder ihre Kinder, wenn sie mehr als 100.000 Euro pro Jahr verdienen. Dabei gilt: Je länger jemand im Pflegeheim lebt, desto höher ist der Zuschuss der Versicherung. Die jüngste Sozialkasse, die Mitte der 1990er-Jahre etabliert wurde, ist als Teilkaskoversicherung angelegt. Nur ein Teil der tatsächlichen Kosten werden übernommen. Jede Verbesserung bei den Pflegeprofis und in der Betreuung, die Geld kostet, schlägt automatisch in höheren Eigenanteilen durch.

Pflegebedürftige zahlen durchschnittlich 2411 Euro aus eigener Tasche

Nach Zahlen des Ersatzkassenverbandes VDEK zahlten zu Pflegende im Heim 2022 monatlich im Schnitt 2411 Euro aus der eigenen Tasche, 278 Euro mehr als im Vorjahr. Die Summen unterscheiden sich stark nach Regionen – in Sachsen-Anhalt kostet der Eigenanteil pro Heimplatz etwa 1823 Euro, im Saarland 2782 Euro. Überall ist es aber deutlich mehr als die Durchschnittsrente.

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von Cordula Tutt

Im Koalitionsvertrag haben sich SPD, Grüne und FDP verpflichtet, die soziale Pflegeversicherung finanziell dauerhaft zu stabilisieren. Jährlich fehlen nach Schätzung der gesetzlichen Krankenkassen, die die Pflegekasse mit verwalten, etwa zwei bis drei Milliarden Euro. Das Ziel stabile Finanzen wird allein schon deshalb schwer, weil der Kreis der Hilfebedürftigen weiter zunehmen dürfte, wenn die Menschen älter werden. Zudem sollen Pflegekräfte bessere Arbeitsbedingungen und angemessene Entlohnung bekommen. Anders werden sich dringend gesuchte Fachkräfte kaum in großer Zahl finden lassen.

Die Krankenkassen und Sozialverbände haben so genannte Brandbriefe an Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) geschickt. Sie wollen Bundeszuschüsse für die Pflegekasse. 2022 habe das Defizit 2,25 Milliarden Euro betragen, 2023 würden es wohl drei Milliarden sein. Mit den bisherigen Plänen sei es nicht zu stopfen.

Corona-Zusatzkosten von 5,5 Milliarden Euro

Die Vertreter der Pflegeversicherung pochen darauf, dass Kosten nicht bei den Beitragszahlern bleiben, die eigentlich von der gesamten Gesellschaft zu tragen seien. Dazu zählen sie die noch immer wirkenden Corona-Zusatzkosten von 5,5 Milliarden Euro und die Rentenversicherungsbeiträge von pflegenden Angehörigen, die von der Pflegekasse gezahlt werden, obwohl das eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung sei und zur Steuerfinanzierung gehöre.

Die Chefin des AOK-Bundesverbandes und SPD-Parteikollegin Lauterbachs, Carola Reimann, kritisiert vor der Anhörung am Donnerstag, der Gesetzentwurf biete keine „nachhaltige und ordnungspolitisch sinnvolle Finanzierungslösung“. Die Maßnahmen seien „extrem kurzsichtig und sozial völlig unausgewogen“. Dauerhafte Lösungen wie im Koalitionsvertrag versprochen, fehlten ganz.

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Dazu gehört aus Sicht von Sozialversicherungsexperten auch der Aufbau eines nennenswerten Kapitalstocks in der Versicherung, die bisher fast ausschließlich als Umlage funktioniert. Das wirkt zwar erst langfristig, aber entlastet dann jüngere Generationen gegenüber einer wachsenden Zahl Älterer. Doch Lauterbach ist nicht zu solchen Schritten bereit: Erst nach breiter Kritik hat er seine ursprünglichen Pläne fallen lassen, die Einzahlungen aus der Pflegekasse in den als Demografiereserve angelegten Pflegevorsorgefonds auszusetzen. Zunächst war geplant, die Einzahlungen in den ohnehin schon recht überschaubaren Kapitalstock 2023 gänzlich zu stoppen. Nun wird Ende des Jahres auf einmal überwiesen, um der Pflegekasse solange zumindest etwas mehr Liquidität zu lassen, die inzwischen sehr knapp ist.

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