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Gerd Müller

Gefährliche Zoonose-Erreger "40 weitere Viren mit einem Pandemie-Potenzial wie Sars-CoV-2"

Gerd Müller
Ein Gastbeitrag von Gerd Müller, Bundesentwicklungsminister
Zoonosen sind Krankheiten, die vom Tier auf Menschen überspringen können - und eine unterschätzte Bedrohung. Wenn wir die globale Gesundheitspolitik nicht überdenken, könnten uns Pandemien wie die Coronakrise regelmäßig heimsuchen.
Gelbfieberimpfung (in Angola)

Gelbfieberimpfung (in Angola)

Foto: DPA/ EPA

2018 warnten Epidemiologen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor einer unbekannten "Krankheit x", ausgelöst durch ein Virus, das von Tieren stammt und irgendwo auf dem Planeten auftaucht, wo die wirtschaftliche Entwicklung Menschen und Wildtiere zusammenführt. Ein Virus beschrieben die Experten, das sich schnell ausbreite, das durch Reiseverkehr und globale Lieferketten viele Länder erreiche und für das bislang keine adäquaten Präventions- oder Therapiemöglichkeiten bestünden; ein Virus auch, das eine höhere Sterblichkeit als die Grippe habe und die Finanzmärkte erschüttern werde.

Trotz dieser Warnung ist die Welt von Covid-19 überrascht worden.

Das Virus hat den Menschen als neuen Wirt besiedelt. Das ist nicht ungewöhnlich. Mehr als die Hälfte aller bekannten Erreger, die Erkrankungen beim Menschen hervorrufen, sind sogenannte Zoonose-Erreger, die wechselseitig zwischen Tier und Mensch übertragbar sind. Auch die Herkunft der Spanischen Grippe aus dem Jahr 1918 wird entgegen ihrer Namensgebung in einem amerikanischen Schweinestall vermutet.

Fachleute sagen voraus, dass solche Pandemien künftig immer häufiger auftreten und in kürzeren Abständen ausbrechen werden. Die Megatrends unserer Zeit – Globalisierung, Urbanisierung, Rückgang von Biodiversität, Bevölkerungswachstum und Klimawandel – befördern solche Infektionskrankheiten. Menschen dringen immer öfter und immer weiter in unberührte Wildnis vor. Lebensräume schrumpfen durch Trockenheit und Überflutung oder weil Wälder für landwirtschaftliche Produktionsflächen abgeholzt und Staudämme errichtet werden. Gleichzeitig machen wir die Welt durch Flugreisen und unseren globalisierten Warenverkehr immer kleiner. Wir agieren im globalen Dorf: Das macht die Wege auch für hochinfektiöse Viren kurz. Virologen sprechen von etwa 40 weiteren zoonotischen Viren mit einem Pandemie-Potenzial von Sars-CoV-2.

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Foto:

Rainer Jensen/ DPA

Gerd Müller wurde 1955 im schwäbischen Krumbach geboren. Der CSU-Politiker ist seit 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung steht deshalb das Thema Zoonosen auf der entwicklungspolitischen Agenda. Zusammen mit dem Internationalen Tierforschungsinstitut ILRI haben wir gerade ein erstes "One Health"-Center in Nairobi auf den Weg gebracht. Der "One Health"-Ansatz will eine optimale Gesundheit für Menschen, Tiere und unsere Umwelt erreichen, indem die Kompetenzen von Experten aus der Tiergesundheit, der Landwirtschaft und der Humanmedizin zusammengeführt werden.

In Ländern der Ostafrikanischen Gemeinschaft arbeiten diese Disziplinen bereits heute zusammen, mit Kompetenzen, die wir aufgebaut haben und von denen wir nun profitieren können. Doch damit "One Health" nicht nur eine politische Floskel bleibt, müssen wir auch global aus dem politischen und akademischen Silo-Denken herauskommen. Ein integriertes Gesundheitskonzept mit vier Säulen ist notwendig, um die Wahrscheinlichkeit von Pandemien wie Covid-19 künftig zu verringern.

Häufig leben Mensch und Tier unter einem Dach - ideale Übertragungsbedingungen für Zoonose-Erreger.

An erster Stelle steht der Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens mit Gesundheitsfachkräften, gesundheitlicher Grundbildung in den Schulen, Zugang zu Impfungen, Diagnostik und Therapie – ambulant wie stationär – für breite Bevölkerungsschichten. Krankheiten bedeuten immer individuelles menschliches Leid, aber auch die wirtschaftlichen Auswirkungen sind enorm: In Kenia kostete das Rifttalfieber 2006 jede Familie durchschnittlich 500 US-Dollar. Insgesamt ging ein Drittel des nationalen Bruttoinlandsprodukts des Landes verloren. Noch dramatischer waren zwischen 2013 und 2016 die Folgen des Ebola-Ausbruchs in den Staaten Westafrikas. In Liberia stürzte das Wirtschaftswachstum von 8,7 Prozent auf 0,7 Prozent ab. In Guinea kam das Wachstum fast zum Stillstand. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtkosten der Ebola-Epidemie werden auf 53 Milliarden Dollar geschätzt.

Die zweite Säule ist der Ausbau des öffentlichen Veterinärwesens. Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt auf dem Land; über 80 Prozent der Bauern in den Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit halten Nutztiere. Häufig leben Mensch und Tier unter einem Dach in engem Kontakt; Tierhaltung sowie Produktion von Milch und Fleisch erfolgen unter oft dürftigen Hygienebedingungen - ideale Übertragungsbedingungen für Zoonose-Erreger. Seuchenhygiene, Impfungen und der restriktive Einsatz von Antibiotika sind notwendig, um Viehbestände gesund zu halten. Und wir brauchen eine konsequente Schlacht- und Lebensmittelhygiene entlang der gesamten Produktionskette. Erste Schritte dazu gehen wir bereits im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem ILRI in Nairobi.

Drittens müssen wir die Ernährungssituation der Bevölkerung nachhaltig verbessern, Unter- und Mangelernährung wirksam bekämpfen und hochwertige, proteinhaltige Nahrung – insbesondere für Schwangere und Kinder – sicherstellen, um die Widerstandskraft gegen Infektionen zu erhöhen. Wichtig wäre auch das Verbot von Wildtiermärkten. Gerade die "Wet Markets" in Afrika und Südostasien haben Forscher als Brutstätten neu auftretender Zoonosen identifiziert. Dort werden unter meist desaströsen Hygiene- und Haltungsbedingungen nicht nur lebende Tiere, sondern auch große Mengen an "Bushmeat", Fleisch von Wildtieren aus den tropischen Regenwäldern, verkauft. Dieser direkte Kontakt auf den Märkten, vor allem der Verzehr der Tiere, setzt die Menschen einer unkalkulierbar hohen Ansteckungsgefahr mit unbekannten oder erst in diesen Konstellationen durch Mutation neu entstehenden Zoonose-Erregern aus. Die erste SARS-Epidemie von 2002, Ebola, nun Covid-19 haben hier sehr wahrscheinlich ihren Ursprung.

Diese Gesundheitsarchitektur muss weltweit administriert und koordiniert werden.

Schließlich muss es darum gehen, den Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser zu verschaffen und Abwässer richtig zu entsorgen. Beides sind entscheidende Faktoren zur Sicherstellung von gesunder Ernährung und Hygiene. Wir arbeiten seit Jahren mit deutschen Kommunen und mittelständischen Unternehmen am Aufbau von Abfall- und Wasserkreislaufwirtschaften in Entwicklungsländern. Sie müssen auch den sorgsamen Umgang mit Abwässern aus der Tierhaltung lernen, aus der pharmazeutischen Industrie, insbesondere der Antibiotika-Herstellung. Diese Kloaken sind riesige, unkontrollierbare Bioreaktoren, die eine massive Gefährdung der Gesundheit durch multiresistente Keime darstellen.

Diese Gesundheitsarchitektur muss weltweit administriert und koordiniert werden – die multilateralen Akteure müssen zusammenarbeiten: die Weltgesundheitsorganisation, die Weltorganisation für Tiergesundheit, die Welternährungsorganisation, der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen und die weltweit agierenden Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose (GFATM) mit der Impfallianz GAVI. Weil wir mit weiteren Pandemien rechnen müssen, sollten wir die WHO zum Weltpandemie-Center ausbauen: mit ortsgenauem Monitoring über Infektionsausbrüche und Verläufe, einem globalen Meldesystem und internationalen Forschungsverbünden mit China und Afrika, die ihre Erkenntnisse ähnlich wie in der Klima- und Tsunamiforschung vernetzen. Da wir ohnehin unsere globalen Finanzstrukturen werden neu ordnen müssen, wären Einnahmen aus einer Finanztransaktionsteuer oder Digitalsteuer gut dafür aufzuwenden.

Bei uns in Deutschland ist es entscheidend, dass das Entwicklungs- und das Gesundheitsministerium Hand in Hand arbeiten. Mit dem neuen Arbeitsschwerpunkt "One Health" sind wir gut vorbereitet.

Anm. d. Red: In einer früheren Version des Artikels hieß es im Vorspann, Zoonosen seien Viren. Tatsächlich sind Zoonosen Krankheiten, die von Tieren auf den Menschen überspringen und sowohl durch Viren als auch Bakterien hervorgerufen werden können. Wir haben den Vorspann entsprechend angepasst.